Träumen vom eigenen Leben

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Gemeinsam können sie fast alles: die behinderten Bewohner der Caritas-Einrichtung in Unternalb. Nur vom Zimmer für sich allein müssen sie vorläufig noch träumen. Auf das Christfest haben sie sich mit einem Weihnachtsspiel vorbereitet.

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Gemeinsam können sie fast alles: die behinderten Bewohner der Caritas-Einrichtung in Unternalb. Nur vom Zimmer für sich allein müssen sie vorläufig noch träumen. Auf das Christfest haben sie sich mit einem Weihnachtsspiel vorbereitet.

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Ein Weihnachtsstern leuchtet über dem barocken Torbogen des ehemaligen Propsthofes in Unternalb bei Retz im Weinviertel. Das blauweiß gefärbelte Gestell, das der Himmel für die Theaterengel sein wird, steht am Boden, an der Gartenmauer warten die Strohballen aufs Christkind, das schräge Podest für die Krippe ist schon fertig. Vor etwa zweihundert Jahren gehörte das gelb gestrichene Gebäude mit der eindrucksvollen Einfahrt und zwölf Hektar Grund dem Stift Göttweig. Heute ist eine Behinderteneinrichtung der Caritas hier untergebracht, die schlichte silberne Tafel weist darauf hin.

39 Männer und eine Frau mit geistiger Behinderung leben und arbeiten hier, sie haben die Requisiten für das Weihnachtsspiel hergestellt.

"Wir sind sowohl Wohneinrichtung als auch Tagesheimstätte für Beschäftigungstherapie", erklärt Theologe Karl Klauser, der Leiter des Hauses. Schon früher arbeitete er im Behindertenbereich, seit sechs Jahren tut er in Unternalb mit 21 Betreuern nach Kräften alles, um Fähigkeiten und Talente der Bewohner zu fördern. "Es geht um die Struktur. Wir führen eine traditionelle Landwirtschaft. Manche schaffen zwei Stunden Arbeit, andere sechs. Die Leute können wachsen, lernen, Erfahrungen sammeln und Aufgaben übernehmen." Die natürliche Bewirtschaftung von Feldern und Vieh wirft genug unterschiedlichste Arbeit ab.

Handwerker & Bauern Die Bewohner des Hofes sind zwischen 16 und 60 Jahre alt. Obwohl einige ältere die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft schon zu sehr anstrengt, findet jeder eine Möglichkeit, mitzuarbeiten.

In Fleischerei und Schmiede geht es professionell zu: Schneidmaschinen, Lötkolben, Kreissägen, Klemmen, Bohrer: Geräte mit hoher Verletzungsgefahr gehören für die, die hier arbeiten, zum Alltag. Trotzdem passiert kaum etwas. "Ich bin gelernter Schmied", sagt Werner Novak, der als Behindertenbetreuer die sogenannte "Hofwerkstätte" leitet. Als Meister seines Fachs kann er genau abschätzen, wer an welche Maschine darf. Fünf Leute arbeiten mit ihm. Sie sind "Mädchen für alles", was Reparaturen betrifft. Momentan stehen sie im Dienst des Advent: normalerweise ist der achtzehnjährige Georg S. ein Temperamentsbündel, jetzt schmirgelt er hingebungsvoll konzentriert und still an einem Kerzenständer aus Metall.

Das zeitlose Design stammt aus Werners Lehrzeit, es sieht fast antik aus. "Wir haben sie zur Gänze selber gemacht", sagt Werner und zeigt stolz andere Modelle wie eine Kellerleuchte. Aus dem Hintergrund tönen Radiohits wie in jedem "echten" Betrieb. "Die Leute lernen hier, zuverlässig und pünktlich zu sein, sauber zu arbeiten und zusammenzukehren. Sie wissen, wie sie eine Maschine angreifen und weglegen müssen und entwickeln ein Gespür für Metallsägen. Sie können gute Hilfsarbeiter werden", sagt Karl Klauser. "Heuer konnten wir sechs Menschen vermitteln."

Einer davon ist Hans F. Er arbeitet in der Fleischerei und kann den anderen zeigen, wie man Würste macht. "15 Jahre war ich in der Arbeitsgruppe, jetzt bin ich auswärts in Oberhöflein beim ,Rieger'", sagt er und wirft einen Kontrollblick auf das Kaninchen, das von einem Metallhaken an der Decke hängt. Auch hier wird jetzt für Weihnachten produziert, nachdem zu Martini der Gänsebestand um einiges reduziert worden war. Das Fleisch aus Unternalb hat in der Gegend einen hervorragenden Ruf: die Tiere werden gut gehalten und gepflegt. Für den Adventmarkt schneiden im Nebenraum zwei Ältere Zwiebel für die Leberpastete: eine Arbeit, die auch schwächere machen können.

In der Gruppe für die Senioren geht es ruhig zu: der Geruch von Tannenduft verbreitet sich im Raum, zwei Herren sitzen an einem hellen, hölzernen Tisch, binden Reisig und flechten Girlanden für den Advent. Hubert K. ist einer von ihnen, sein sechzigster Geburtstag wurde vor kurzem gemeinsam gefeiert. Früher hat er im Ackerbau gearbeitet, Strohballen geschlichtet, Kartoffeln oder Rüben geerntet. Seit einem Jahr strengt ihn das zu sehr an. Nun kümmert er sich um die Verwertung der Produkte: als klassische Winterarbeit schälen die älteren Nüsse, pressen Trauben und Äpfel zu Saft oder kochen Marmelade ein. Auch kleinere Tischlerarbeiten führen sie aus: im Raum steht die Krippe für das Jesuskind. Besonders stolz sind alle auf den Kaninchenstall, den sie für ihre kleinen Lieblinge gebaut haben.

Ein Haus der Tiere Tiere sind aus Unternalb nicht wegzudenken: zwischen dreißig und vierzig Schweine, zwei Mutterkühe, robustes Waldviertler Blondvieh mit Kälbern, Pferde, Schafe, Hühner, Gänse, Kaninchen, sogar ein Pfau werden gehalten. Besonders beliebt sind kleine Kätzchen zum Streicheln. Eines davon sonnt sich am Auftrittspodest für die Schauspieler. Ein Esel ist "befristet" für das Weihnachtspiel da. In der Pferdekoppel fällt die "Futterliste für Susi" auf. Einen Liter Hafer, einen halben Liter Pegus, mindestens drei Bündel Heu bekommt die Haflingerdame am morgen. Mittags und abends genügen zwei Bündel, der Rest des Menüs ist gleich. Prim kriegt deutlich mehr, er braucht es, weil er mehr arbeitet. Für die Pferde ist Kurt zuständig. Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst und weiß, wie er mit den Tieren umgehen muss. Beim Weihnachtsspiel spielen auch sie ihre Rolle: sie ziehen den Wagen des Herodes.

Kurts Liebe für die Pferde ist seinem Zimmer anzusehen: ein Pferdepolster ziert das Bett, der Raum ist sehr ordentlich. Das war nicht immer so. Solange er sich mit vielen anderen ein Mehrbettzimmer teilen musste, legte er keinen Wert aufs Aufräumen. Den eigenen Raum aber gestaltet er nach seinem Geschmack. Er ist stolz auf die Ordnung, die hier herrscht.

Für viele ist das Einzelzimmer noch unvorstellbarer Luxus. Im alten Gemäuer mit den langen Korridoren, hohen Räumen und denkmalgeschützten Barockdecken gibt es kaum Platz für individuellen Freiraum. Oft muss sich eine zehnköpfige Wohngruppe einen Aufenthaltsraum teilen. Dort wird gleichzeitig gekocht, Karten gespielt oder gelesen. Für sich allein haben die Männer meist nur ein Bett und einen Kasten. Um Häferl, Stofftiere, Pickerl oder ähnliches unterzubringen, wird jedes Eck genutzt. Bananenkartons stapeln sich, in denen persönliche Pretiosen aufbewahrt werden.

Karl H., der Hirte Karl H. wohnt seit dreiundzwanzig Jahren hier. "Ich bin der Hirte", sagt er stolz. Seine Rolle ist stumm, Karl tut sich mit dem Sprechen nicht leicht, aber er kann mit Tieren gut umgehen: das Lämmchen, das er hält, bleibt in seinen Armen ganz still. Karl füttert die Schweine, kümmert sich um Hühner, Schafe und Kühe. Wenn einem der Tiere etwas fehlt, spürt er das. Bei seiner sorgfältigen Pflege kommt das nur selten vor. "Er ist ein wunderbarer Schauspieler, hört intensiv zu, passt auf, ist pünktlich und verläßlich", lobt Regisseurin Franziska Wohlmann den Ernst, mit dem Karl spielt. Für sie ist die Arbeit mit behinderten Menschen eine Herausforderung. "Unseren Leuten hat das sehr gut getan, wir haben alle Geduld lernen müssen."

Die Gruppe "Theater Westliches Weinviertel" führt heuer zum dritten Mal das Weihnachtsspiel von Helmut Korherr auf. "Wir wollten etwas gegen die Weihnachtsmärkte tun, bei denen die Musik nur noch aus der Konserve kommt und es keine adventliche Stimmung mehr gibt", war Wohlmann von der Atmosphäre in Unternalb begeistert.

Sie inszenierte ein stilles Spiel, dessen Text vorwiegend aus der Bibel kommt. Mit ursprünglichen Kostümen, Fackeln, Hirtenfeuer und Chorgesang unter der Leitung von Otto Lambauer, erlebte man unter freiem Himmel eine faszinierende Aufführung.

Neben der Tierbetreuung und dem weihnachtlichen Spiel ist Karl H. begeisterter Sportler. "Ich spiel' Fußball, und mach' Leichtathletik", erzählt er fröhlich. Sorgfältig dokumentierte er die Olympischen Spiele, legte genaue Listen und Tabellen an. Seine Quelle, die Kronenzeitung, sammelt er sorgfältig. Er findet es nicht schlimm, dass er sein Zimmer teilen muss.

Eine einzige Frau Markus ist anderer Meinung. "Mit dem Hubert red' ich nichts. Ich kann ihn nicht leiden und tu so, als ob er nicht da wäre", sagt er über seinen Zimmerkollegen. Markus träumt vom eigenen Arbeitsplatz und den eigenen vier Wänden. Die Voraussetzungen sind gut: sein größter Wunsch ist es, Koch zu werden. "Am liebsten mach ich gebackene Mäuse", erzählt er.

"Unsere Bewohner haben viele Fähigkeiten und dieselben Bedürfnisse wie wir. Sie haben ein Recht auf Arbeit, Privatheit und persönlichen Freiraum", sagt Hausleiter Karl Klauser. Zwar wurde einiges verbessert, man hat sich bemüht, wenigstens Trennwände zwischen den gemeinsamen Duschen einzubauen. Es braucht viel Toleranz, um miteinander auf engem Raum gut auszukommen. Rückzugsmöglichkeiten gibt es kaum. Unter diesen Bedingungen selbständig zu werden, ist sehr schwer. Eine einzige betreute Probewohnung gibt es in Unternalb, in ihr lebt die bisher einzige Frau in der Männerrunde. Sie hat den Umgangston deutlich gemildert und häusliche Qualitäten entwickelt, die noch vor einigen Jahren unter einer dicken Schicht von Lethargie verdeckt waren. Klauser: "Wir haben nur positive Erfahrungen gemacht. Ich finde, unsere Heimbewohner haben das Recht auf Privatsphäre. Sie sollen mit Frauen Freundschaft schließen dürfen, eine Arbeit wählen, die ihnen Spaß macht, und selbst bestimmen, was sie essen und kochen möchten. Wie jeder von uns auch."

Spenden für das Caritas-Projekt Unternalb: Caritas - Kennwort "Bauernhof Unternalb", PSK (BLZ 60000) Kto.Nr. 7.000.004

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