"Überzeugte Muslimin, überzeugt säkular"

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Die islamisch-schiitische Theologin Hamideh Mohagheghi sieht gläubige Menschen in der Verantwortung, ihren Glauben mit den Prinzipien moderner säkularer Gesellschaften "zu versöhnen". Den Koran müsse man aus dem historischen Kontext heraus verstehen.

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Die islamisch-schiitische Theologin Hamideh Mohagheghi sieht gläubige Menschen in der Verantwortung, ihren Glauben mit den Prinzipien moderner säkularer Gesellschaften "zu versöhnen". Den Koran müsse man aus dem historischen Kontext heraus verstehen.

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Islamische Befreiungstheologie scheint ein Widerspruch in sich zu sein - doch nicht für Hamideh Mohagheghi, die bei der diesjährigen Sommerakademie an der Friedensburg Schlaining darüber referierte. Mohagheghi - Juristin, islamisch-schiitische Theologin und Mitbegründerin des islamischen Frauennetzwerkes "Huda" - stammt aus dem Iran, lebt in Deutschland, unterrichtet an der Universität Paderborn islamische Theologie und ist begeisterte Großmutter.

DIE FURCHE: Hat der Islam befreiendes Potential?

Hamideh Mohagheghi: Menschen sollen sich für Schwache und Bedürftige einsetzen und sich nicht unterdrücken lassen. In einer sehr bekannten Überlieferung heißt es: "Der unterdrückt und der sich unterdrücken lässt - beide sind auf gleicher Stufe." Bei Ungerechtigkeiten darf man nicht schweigen, sondern muss sich wehren.

DIE FURCHE: Gibt es in der Geschichte des Islam dafür Beispiele?

Mohagheghi: In der schiitischen Tradition ist der dritte Imam Hussein ein Symbol der Befreiungstheologie. Er wusste, dass er keine Chance gegen die herrschenden Ummayyaden hatte und umgebracht würde. Dennoch hat er nicht aufgehört, sich gegen die Ungerechtigkeit der Herrscher zu stellen. Bis heute ist er in der schiitischen Theologie das Vorbild für den Einsatz gegen Ungerechtigkeit.

DIE FURCHE: Was ist ungerecht?

Mohagheghi: Das ist immer konkret. Ein Beispiel: In afrikanischen Ländern, die sehr reich an Ressourcen sind, leidet die Bevölkerung unter Mangel; einige leben in Saus und Braus. Da geschieht Unrecht. Oder: Es ist ungerecht, Menschen ihre Freiheit zu rauben. Der Mensch ist von Gott frei erschaffen, und jede weltliche Macht, die diese Freiheit wegnimmt, handelt ungerecht.

DIE FURCHE: Militante Fundamentalisten sagen, sie wehren sich gegen Unterdrückung

Mohagheghi: Vielleicht fühlen sich die extremen fundamentalistischen Gruppen ungerecht behandelt, doch was sie tun, ist eine noch schlimmere Ungerechtigkeit. Man kann nicht sagen, dass ihr Verständnis des Islam richtig ist. Sich vor Unterdrückung zu schützen legitimiert Unrecht tun nicht.

DIE FURCHE: Wie wird Freiheit im Koran begründet?

Mohagheghi: Das Menschbild von Koran und Überlieferung sagt, dass Gott den Menschen frei erschaffen hat. Aus dieser Freiheit kann und darf der Mensch leben. Das bedeutet aber nicht "ich kann machen, was ich will" - das ist falsch verstandene Freiheit. Der Freiheit des Menschen sind ethische Grenzen gesetzt. Diese Grenzen setzt Gott, aber nicht der Mensch. Problematisch ist, dass Menschen gerne Gott spielen und Grenzen für andere setzen. Wo von "Strafe Gottes" die Rede ist, geht es immer um Strafen nach dem Ende der Welt - die sind nur Gottes Sache. Und Gott ist barmherzig.

DIE FURCHE: Also wären Verhüllungsgebote für Frauen, Kinderehen usw. Unrecht?

Mohagheghi: Auf jeden Fall. Der Mensch hat die Freiheit zu wählen - solange man nicht gegen weltliche Gesetze handelt. Alles andere ist eine Sache zwischen Gott und Mensch.

DIE FURCHE: Was ist Gottes Wille?

Mohagheghi: Wer sagt, ich weiß, was Gott will, beginnt, sich selbst als Gott zu sehen. Gott ist nicht fassbar oder beschreibbar, auch wenn wir sagen, im Koran spricht er zu uns. Aber selbst wenn ich den Koran gelesen habe, weiß ich nicht, was Gott von mir will. Jemand fragte den Propheten: "Woher weiß ich, dass ich richtig handle?" Er sagte zu ihm: "Schau in dein Herz. Wenn das Herz bebt und unruhig ist, dann weißt Du, dass es nicht ganz richtig ist, was du tust." Man muss abwägen: Wie ist die Lebensrealität, und was ist da gutes Verhalten? Natürlich, die Männer sagen, wie die Frauen sich anziehen sollen. Aber das muss jede muss für sich entscheiden können.

DIE FURCHE: Aber bestimmt nicht die Scharia, was zu tun ist?

Mohagheghi: "Die Scharia" gibt es nicht, Scharia ist die gesamte islamische Lebensweise. Im Laufe der Zeit und in verschiedenen Kulturen haben sich unterschiedliche Formen entwickelt. Im Koran heißt es nur, es ist ein Weg, der gezeigt wird. Wenn man heute im Kontext von Europa überhaupt von Scharia spricht, dann nur so, dass Menschen wirklich hier leben können. Diese Stimmen gibt es ja. Das islamische Recht ist immer sehr lebendig gewesen. Was ist denn ein islamisches Rechtssystem? Ein Rechtssystem, das auf Gerechtigkeit basiert! Als überzeugte Muslimin bin ich auch ein überzeugter säkularer Mensch. In unserer Zeit gibt uns die Säkularität den Rechtsrahmen, um wirklich religiös leben zu können.

DIE FURCHE: Aber widerspricht das nicht der Scharia?

Mohagheghi: In Ländern, in denen man meint die Scharia zu praktizieren, wird gemacht, was dort als gut gilt. Zum Teil ist das ja auch ganz schlecht -wenn sie etwa das sogenannte göttliche Recht zur Legitimierung ihrer Untaten nehmen.

DIE FURCHE: Kann man sich als Muslim auf Säkularität einlassen?

Mohagheghi: Wenn wir das nicht tun, dann sind wir weder glückliche moderne Menschen noch glückliche Gläubige. Die Modernität holt uns ein, wenn wir uns nicht darauf einlassen. Ich sehe das auch als Verantwortung gläubiger Menschen, beides miteinander zu versöhnen.

DIE FURCHE: Gibt es islamische Befreiungstheologen?

Mohagheghi: Farid Esack in Südafrika z. B., er hat sehr eng mit Mandela zusammengearbeitet. Sein Engagement kommt aus seinem tiefen Glauben. Er vertritt nicht viel anderes als christliche Befreiungstheologen: die Freiheit, die Gott den Menschen gegeben hat, zu nutzen, um sich aus dem Glauben gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen.

DIE FURCHE: Jede Koran-Sure beginnt mit "Im Namen Gottes des Allerbarmers". Ist das befreiungstheologisch zu verstehen?

Mohagheghi: Auf jeden Fall. In einem Koran-Vers heißt es: "Ich hab mir die Barmherzigkeit vorgeschrieben." Gott macht es sich zur Pflicht, barmherzig zu sein. Islam heißt Hingabe, das kommt von "salama", in sich Frieden finden, in sich sicher sein. Das kann nur durch einen Glauben sein, der aus freiem Willen entsteht. Nur so kann ich sagen, ich gebe mich in Gottes Hand.

DIE FURCHE: Sie forschen über Gewaltverse im Koran

Mohagheghi: Wie in der Bibel gibt es Gewaltaussagen im Koran. Je mehr ich mich mit diesen in Medina geoffenbarten Suren beschäftige, desto deutlicher ist, dass sie sich auf Konfliktlösungen in Stammesgesellschaften beziehen, die teils gewalttätig waren. Wenn man diese Stellen im Koran nicht in ihrem historischen Kontext liest, sind es gefährliche Stellen. Der Koran sagt selbst, man muss für das Verstehen des Korans die Vernunft einsetzen. Das ist keine neue Idee - die großen Koran-Kommentatoren der Frühzeit sagen eindeutig, diese Verse beziehen sich auf die damalige Gesellschaft. Diese Verse gelten nicht nach dem Wortlaut, sondern man muss den überzeitlichen Sinn finden. Wenn man diese sehr problematischen Texte genau liest, dann zeigen sie Möglichkeiten der Konfliktlösung. So heißt es z. B. "tötet nicht, aber wenn ihr tötet, übertreibt nicht". Es wäre blauäugig zu glauben, dass es ganz ohne Gewalt geht. Aber da, wo Gewalt notwendig ist, muss man ihre Grenzen und ethische Prinzipien anerkennen.

Das Gespräch führte Ursula Baatz

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