Ukraine Demo Rom - © Getty Images / Grzegorz Galazka / Archivio Grzegorz Galazka / Mondadori Portfolio

Ukraine und Kirche: Unheilige Kriegsbünde

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Wenn sich Religion mit irdischer Macht vermengt, entsteht eine gefährliche Mischung, die auch der Gewalt das Wort redet. Eine Klärung anlässlich der Ukraine-Invasion.

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Wenn sich Religion mit irdischer Macht vermengt, entsteht eine gefährliche Mischung, die auch der Gewalt das Wort redet. Eine Klärung anlässlich der Ukraine-Invasion.

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Nach den Terroranschlägen von 9/11 konzentrierte sich die Diskussion über Religion und Frieden auf die Frage, ob auch der Islam wie das Christentum eine Religion des Friedens sei. Jetzt, im März 2022, sind wir plötzlich mit einem Krieg in Europa konfrontiert, der auch von Spannungen innerhalb der Orthodoxie geprägt ist. Die oft behauptete christliche Überlegenheit im Bezug auf Frieden liegt in Trümmern. Wird diese Schockerfahrung wieder jene stärken, die eine grundsätzliche Gewaltaffinität der Religionen behaupten?

Diese These übersieht alle Beispiele religiöser Friedensstiftung und bedarf keiner weiteren Diskussion. Ernsthafter ist die These von einer grundsätzlichen Ambivalenz der Religionen, die damit sowohl Beispiele religiöser Gewalt als auch religiöse Friedensinitiativen erklärt. Aber auch sie spiegelt einerseits nur die Ambivalenzen menschlichen Lebens wider und verstellt die Analyse tatsächlicher Gewaltursachen. Bleibt damit nur die Instrumentalisierungsthese, die von einer immer guten Religion ausgeht, die dann Gewalt oder Krieg antreibt, wenn sie von politischen Kräften missbraucht wird? Auch diese These greift zu kurz, weil sie Beispiele religiös motivierter Gewalt ausblendet.

Der „Blick Gottes“ ermöglicht Frieden

Für eine brauchbare Antwort muss innerhalb der Religionen nach Potentialen für Frieden und den Versuchungen zur Gewalt gesucht werden. Fratelli Tutti, die jüngste Sozialenzyklika von Papst Franziskus, hilft hier weiter. Religionen tragen dann zum Frieden bei, wenn sie den „Blick Gottes“ zum Ausgangspunkt nehmen. Weil die Liebe Gottes keinen Unterschied zwischen den Menschen macht, ermöglicht sie Frieden: Nicht „in den fundamentalen religiösen Überzeugungen“ findet Gewalt eine Grundlage, „sondern nur in deren Verformungen“. Nicht nur äußerliche Instrumentalisierungen verleiten also zu religiös motivierter Gewalt, sondern es gibt auch Versuchungen zur Gewalt in den religiösen Traditionen. Anthropologisch kann diese Einsicht durch René Girards Unterscheidung zwischen dem Sakralen früher Religionen und dem Heiligen der biblischen Offenbarung plausibel gemacht werden. In seinem frühen Werk unterschied er zwischen einer „vom Menschen kommenden Religion“ und einer „von Gott kommenden Religion“. In seinem letzten Buch wurde daraus die systematische Unterscheidung zwischen „sakral“ und „heilig“.

Das Sakrale bezeichnet die gewaltbewehrte Gewalteindämmung früher Religionen, während das Heilige für die vom gewaltfreien Gott geschenkte Fähigkeit zum Frieden steht, wie sie im Zentrum der heutigen Weltreligionen zu entdecken ist. Damit gehe ich über Girard hinaus, der noch zu sehr einer christlichen Überlegenheitsthese anhing. Der Übergang vom Sakralen zum Heiligen beginnt mit der Revolution der Achsenzeit und prägt alle gegenwärtigen Hochreligionen. Das Sakrale entspricht der kollektiven Stammesreligion, während das Heilige in einer aktiven Mystik besonders begnadeter Individuen wurzelt. Auch in der modernen Welt finden wir Nachkommen dieser beiden Formen, wenn wir an den religiös motivierten Nationalismus oder die Heiligkeit der Gründerväter der EU denken. Im Blick auf den gegenwärtigen Krieg möchte ich mit der Distanz zu weltlicher Macht ein wichtiges Merkmal heiliger Religion hervorheben.

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