6540104-1946_36_04.jpg
Digital In Arbeit

Um das christliche Bildungsideal Englands

Werbung
Werbung
Werbung

England, das siegreiche England, dem einer der größten Waffentriumphe seiner Geschichte zugefallen ist, sieht sich heute in den geistigen Bezirken seines Lebens von der Ungelöstheit vielfältiger schwerwiegender Fragen bedrängt. Inmitten der anglikanischen Kirche, dieser autoritären, von einem starken Beharrungsvermögen getragenen Kraft, melden sich revisionistische Bestrebungen an, die einer beunruhigten Nachdenklichkeit und dem Sudien nach neuen, kräftiger durchbluteten Lebensformen der christlichen Gemeinschaft entsprungen sind. So ist heute in England auch das Thema der christlichen Erziehung wieder in den Vordergrund und seine Wichtigkeit mit scharfer Betonung unter Beweis gestellt. Die bekannte Monatsschrift „The Fornightly Review“ veröffentlichte einen von Mr. R e a r d o n gezeichneten Aufsatz: „Zu einer christlichen Theorie der Erziehung“, der die schwierige, für das protestantische England bestehende und dem Österreicher zum Teil praktisch fremde Problematik des Gegenstandes vor Augen bringt.

Heute hat die Kirche in der Verbreitung ihrer Botschaft mit den widrigen Umständen einer oft feindlichen Umgebung zu kämpfen. Wenn auch von unseren Vorfahren das soziale Leben nicht absolut nach den christlichen Moralgrundsätzen gelebt wurde, so bestand doch kein grundsätzlicher Unterschied zwischen ihrer Welt und der traditionellen Interpretation des Christentums. Heute, im Zeitalter der Maschinenkultur, ist die Bereitwilligkeit, an übernatürliche Dinge zu glauben, sehr gesunken. Wenn das verstanden wird, dann ist man sich auch schon der Schwierigkeiten bewußt, die man in der heutigen christlichen Religionslehre zu überwinden hat. Sollen sie überwunden werden, dann muß unbedingt eine neue Planung und Verwirklichung der christlichen Erziehung erfolgen. Es ist zu wenig, christliche Erziehung nur als eine einfache Belehrung in religiösen Dingen zu sehen. Ein christlicher Erziehungsplan hat das ganze weite Feld des Wissens zu umschließen. „Wohl noch nie“ — sagt der Verfasser — „wurden die christlichen Kirchen derartig auf das Problem der Erziehung so deutlich hingewiesen wie gerade heute.“ Die Erziehung ist sogar fast die einzige Möglichkeit in der modernen Welt zur Verkündigung der christlichen Lehre. Die Predigt, die in früheren Zeiten das Mittel zur Volksaufklärung war, hat ihre Bedeutung verloren. Heute steht der Priester vor einer weil; schwereren Aufgabe als damals. Was seine Vorgänger als selbstverständlich annehmen konnten, das muß er sich heute erst erkämpfen. Den bisherigen Hauptmangel der Erziehung sieht Reardon darin, daß ihr ein für alle und unter allen Umständen gültiges Prinzip, die klare christliche Doktrin vom Menschen und seinen Aufgaben fehle. Denn nur durch ein klares und überzeugend vorgetragenes Ideengut dürfe christliche Erziehung erwarten, eine Umgebung zu überleben, die in fast allen ihren Ausdrucksformen den wichtigsten christlichen Werten widerspricht. Heute sehe etwa der christliche Sozialist das Wesen des Christentums in seiner Forderung nach der sozialen Gerechtigkeit und nach einer gerechten Verteilung des Arbeitsertrages, aber das mache doch noch nicht das ganze Christentum aus: Es fehle die Erkenntnis der allgemein verbindlichen moralischen und intellektuellen Disziplin. Der Wissensbereich hat sich in dem letzten Jahrhundert zwar ungeheuer erweitert, aber es hat eine Spezialisierung des Wissens Platz gegriffen, die gleichzeitig durch das Fehlen eines einheitlichen Weltbildes ein Chaos in die wahre Erkenntnis der Dinge gebracht hat. Der junge Mensch belegt auf der Universität dieses und jenes Fach, aber n i r-gends bietet sich ihm der Blick auf den Zusammenhang der Dinge in der Weltordnung. Der Autor stimmt Sir Richard Livingstone zu, wenn dieser mit Rücksicht auf die englische Erziehung sage, daß „wir über unsere Erziehung zu sehr mit den Dingen des Lebni beschäftigt sind, um sich mit dessen Geist zu befassen“. So seien Kennzeichen des Geistes, in dem die junge Generation aufwächst, Materialismus und eine bloße Nützlichkeitsphilosophie. Wenn man in ein solches Bildungssystem dann ein bloßes religiöses Buchstabenwissen einfügt, so wird dafür soviel wie nichts von dem christlichen Ideal erreicht. Geht man den Dingen auf den Grund, so muß es klar werden, daß die Schulerziehung in Wahrheit eine schularistische ist und sich mit allgemeinen verschwommenen und negativen Theorien begnüge, nach denen etwa die Unterschiede in religiösen Angelegenheiten für das Leben der Gemeinschaft völlig uninteressant sind. Von dieser Verschwommenheit ist dann nur ein kleiner Schritt zum Unglauben oder wie Chesterton sagt: Toleranz ist die gute Eigenschaft derjenigen, die nichts glauben. Der englische Verfasser findet ein fatales Kriterium für die vorherrschende Auffassung von der Stellung des Menschen und der menschlichen Beziehungen in einem falsch verstandenen Humanismus, der die kulturellen Werte trennbar von jedem religiösen Untergrund halte. Dieser Humanismus sei als erziehliche Kraft, urteilt der Verfasser in der „Fortnightly Review“, unzureichend, denn es ist eine rein menschliche Emp-findungs- und Vorstellungswelt, aus der er erwächst, aber was geschieht dann, wenn diese Liditer einmal verlöschen — welche Antwort vermag dieser Humanismus über die letzten und höchsten Dinge des Menschen zu geben? Humanismus kann wohl die moralischen Intentionen einiger weniger ausgezeichneter Menschen ausdrücken, aber er kann nicht Lebensphilosophie sein, zumal heute, da die bourgoise Demokratie in Evolution begriffen ist, eine Umschichtung der Werte in der Gesellschaft sich vollzieht, die auch eine neue Ideologie der Erziehung bestimmen wird. Damit hört die Frage, ob heute ein zielbewußter Plan zur Durchdringung der Erziehung mit christlichem Geist notwendig ist, auf, eine akademische und spekulative zu sein. Wenn eingewendet werde, daß das grundlegende System der englischen Erziehung die Public School ist und daß diese nicht humanistisch, sondern konfessionell christlich eingestellt ist, so sei es müßig, über Vor- und Nachteil dieser Einrichtung zu sprechen, da es sicher sei, daß sie einer Klasse diene. „Es taucht aber die Frage auf“ — sagt Reardon mit unerbittlicher Offenheit —, „ob dieses System noch die Möglichkeit hat, alle diese bewundernswerten Funktionen zu erfüllen, die es durch ein Jahrhundert meisterte. Der englische Begriff des Gentleman erweckt nidit mehr genügend Respekt, sein Christentum war zu mager in seinem Aufbau. Wenn man eine christliche Gesellschaft als die bestehende Organisation der Zukunft bejahen will, dann muß ihr Fundament tiefer und verständlicher sein, aber auch logischer und exakter in seinem Glauben als das, welches seit dem 17. Jahrhundert der englische Protestantismus im großen und ganzen auszudrücken vermochte. Es komme darauf an, daß die Jugend lerne, einen Glauben nicht nur zu haben, sondern auch zu verstehen und zu erfassen, paß das Christentum nicht nur eine Sitte, eine Gewohnheit, eine Überlieferung, sondern ein intellektuelles Gebäude ist, das mit dem notwendigen intellektuellen Ernst zu betrachten ist.

Die Gedanken des englischen Autors gipfeln in der Forderung, es habe die Erziehung klarzumachen, daß das Christentum das ganze Wesen des Menschen und seine Lebensanschauung zu durchdringen habe, denn der Geist ist ein unteilbares Ganzes, und keine seiner Aktivitäten kann von den andern losgelöst werden.

Wenn die hier aufgezeigten Probleme mehrfach anders liegen als bei uns in Österreich, so sind sie doch verwandt,“ und manche ausgesprochene Warnung gilt auch uns. Mit viel Wärme ist auch bei uns das Ideal des Humanismus als Motor des Gemeinschaftslebens in den Vordergrund gestellt worden. Nicht umsonst ist in diesen Blättern von dem christlichen Humanismus die Rede gewesen, der seine sittlichen Bindungen in einer über den Menschen sehenden ewigen Gesetzlichkeit findet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung