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Umgang mit den Großen

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Für das neue Buch Josef Piepers — eine Sammlung knapper philosophischer und theologischer Aufsätze und anschließender Aphorismen — ist es bezeichnend, daß in seiner Mitte einige Bemerkungen über das Schweigen stehen: es ist das Erdreich, in das die Rede ihre Wurzeln treibt. Damit ist das Thema wieder aufgegriffen, das Pieper, der nun Fünfzigjährige, in seiner Schrift über das Schweigen Goethes angeschlagen hat. Vielleicht ist es sein Thema überhaupt. Philosophie in Piepers Sinne führt vor die unbeantwortete Frage. Die eigentlich philosophische Frage, etwa: Was ist letzten Grundes und überhaupt der Mensch, die Wahrheit, das Erkennen, das Leben, die Krankheit, diese Frage kann nicht „im gleichen Sinne beantwortet werden, in dem sie gestellt ist“; das heißt: sie führt den Menschen vor den „Geheimnis-

charakter der Welt“. Insofern die Philosophie solche, auf das Letzte und Ganze zielende Fragen aufwirft, ist sie wesensgemäß frei. Während die Wissenschaft ursprünglich gleichfalls in Freiheit beantwortbare Fragen stellt und ihre Antworten einer Auswertung unterworfen sieht und unterwerfen will, steht die Philosophie außerhalb einer jeden Nutzbarmachung; sie ist nicht für irgendein Fremdes da, sondern um ihrer selbst willen. (Nach der Formulierung des Aristoteles.) Ihre „Leistung“ ist die Erschütterung, wie es die Leistung der Dichtung ist, daß „der Sinn wachgehalten werde für das Staunenerregende in der Welt“. Und das Kennzeichen der christlichen Philosophie ist, nach Pieper, „daß sie in höherem Sinne als jede andere Philosophie den Sinn für das Geheimnis“ besitzt. Sie verfügt also nicht über endgültige Antworten. Kronzeuge ist Thomas von Aquin, als dessen Bote in unsere Zeit Pieper bezeichnet werden kann. Er hätte ebenso gut wie über das Schweigen Goethes über das Schweigen des Aquinaten schreiben können. Die Werke der beiden Großen ruhen auf dem Schweigen. Ein mystisches Erlebnis rief Thomas kurz vor seinem Tode ins Geheimnis; nicht der Tod hat sein Werk abgebrochen, sondern er schwieg schauend und staunend: „Alles was ich bisher geschrieben habe, erscheint mir wie Spreu, verglichen mit dem, was ich geschaut habe und was mir offenbart worden ist.“ Der Philosophie wie der Theologie ist Unvollendbares aufgetragen und ebenso der Kunst. Das ist das Wesen der Musik, heißt es in der Ansprache während eines Bach-Konzertes, „daß sie einen Bereich des Schweigens zugänglich macht“, daß sie also, wenn man dieser Paradoxie folgen will, sich vor einem gewissen Bezirke selbst aufhebt. Und gerade darin liegt die „Antwort“: Der Mensch ist

auf dem Weg; das Unterwegssein ist sein Wesen. Er ist ein Hoffender, einer, der ein Ziel hat. Was sollen wir also tun? Was muß ein jeder von uns heute vollbringen? „Du mußt, bevor du etwas tust, schweigen und hören, sonst verdirbst du deine Tat schon im ersten Keim; wenn du die Wirklichkeit, die Sachen, nicht siehst, kannst du, im Verhältnis zu anderen Menschen und zum sozialen Ganzen, niemals das Richtige tun; mache dich im übrigen darauf gefaßt, daß sich das Wahre und Gute nicht von selbst durchsetzen, sondern daß du dafür einstehen mußt (du kannst nichts anderes erwarten: die wirkliche Welt ist so gebaut): liebe dein Leben nicht so sehr, daß du es verlierst, das heißt, laß deinen Genußwillen (es ist gegen ihn nichts zu sagen), aber laß ihn nicht so sehr ins Kraut schießen, daß du am Ende untauglich wirst, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, und das Richtige zu tun und auch dafür einzustehen“.

Piaton, den Pieper — an Stelle der Vorsokratiker — als den Ahnherrn der Philosophie feiert, warnte ausdrücklich davor, „auf feste Namen Wert zu legen“, vor der abschließenden Antwort, also vor dem „System“. Antwort ist das unausschöpfbare Bild, und dieses kann nur von der „inneren Meeresstille“ empfangen werden.

Ist eine solche Haltung nun abgelöst von der Zeit? Ruft sie aus ihr heraus? Im Gegenteil, sie ist auf die Geschichte gewendet; sie beansprucht sogar „politische Aktualität“. Auch das ist Forderung der Tradition, wie es sich ja Pieper zur Aufgabe erwählt hat, die verschwiegenen oder in ihrem ganzen Ernste nicht mehr erkannten Werte griechischer und theologischer Weisheit, die im Werke des Aquinaten zusammenströmten, als Antwort an die Zeit und Kritik der Zeit einzusetzen. So kommt er zur Erläuterung des fast paradoxen Wortes seines Meisters: „Es ist das Glück des Schauens, worauf das ganze p o 1 i t i-s c h e Leben hingeordnet zu sein scheint.“ Das setzt voraus, daß streng unterschieden wird zwischen Gemeinwohl und gemeinsamem Nutzen. Dem Nutzen sucht der moderne diktatorische Staat in seinen Planungen die gesamten Kräfte seines Volkes, die geistigen wie die der Arbeit und Wirtschaft, dienstbar zu machen; in ihm ist kein Ort für die Philosophie, deren Stärke gerade auf ihrer Reinheit beruht. Denn Theorie ist ihr Kern: „eine auf Wahrheit und nichts sonst zielende Zuwendung zur Welt“, eine „Haltung des schweigenden Hörens, unterschieden vor allem gegen die Haltung der tätigen Realisierung von Zwecken. Theoretisch heißt geradezu: nicht-praktisch.“ Und das ist das Heilsame, der Grund des Gemeinwohls, daß der Mensch im Trachten nach Erkenntnis der Wirklichkeit ihre Unausschöpfbarkeit erfährt; daß ihm der Reichtum an Einsicht zuteil wird, den Piaton, dem die Weisheit Liebenden für sein Alter verheißen hat. Im selben Geiste hat Pieper die Muße verteidigt, die allein dem Arbeitsfanatismus und der diesem zugeordneten organisierten Freude entgegengesetzt werden kann. Der Verfall des „abendländischen Fundamentalbegriffes Muße“ hat „eine ganz klare geschichtliche Konsequenz. . . und die heißt: totalitärer Arbeitsstaat“. So hat Pieper auch den Mut gefunden, in Ernst und Ehrfurcht v/ieder von Tugend zu sprechen und die christliche Tugendlehre zu vergegenwärtigen, etwa zu sagen, was Klugheit ist: das verpflichtende Verhältnis zur Wahrheit der Dinge, des Seins und deren Vollzug in Leben und Geschichte; sie beruht auf einem Sehen mit reinem Auge: darum verteidigt er wie das Hören das Sehen, das auf das gefährlichste bedroht ist vom „optischen Lärm“. Tugend ist nach Piaton „herrenlos“. Sie macht frei.

Die Antwort auf die Frage „Gibt es eine nichtchristliche Philosophie?“: „Nein, im Abendlande, ta unserer westlichen Welt, in Welt-Europa, gibt es keine nichtchristliche Philosophie.“ Dieses harte Nein ist vielleicht nicht ausreichend, weil das Eigentliche des Christentums, die Menschwerdung, nicht zum Einsatz kommt. Geschähe das, so würde die Antwort doch schwieriger werden.

Aber das Buch will nicht systematisieren; es zeigt auf das Offene, Unbeantwortbare, die Widersprüche geschichtlichen Daseins und will wie eine Aphorismensammlung aufgenommen werden; es vertieft, setzt scheinbar Vergangenes auf überraschende Weise gegenwärtig, reizt zum Widerspruch; es lehrt den „Umgang mit dem Großen und also auch mit dem Heiligen“. Es ist geordnet um die drei Lebensanliegen Weistum, Dichtung, Sakrament; Weistum ist

zugleich Weisung, „die im Gang der Ueberlieferung sozusagen ausgeglühte Gestalt, in welcher der nach den Gründen forschende Geist sich seine Funde gegenwärtig hält“. Die Sakramentstheologie besteht darin, daß „die Zeic.henhaftigkeit der sichtbaren Welt beim Wort genommen wird, zunächst und zuvor natürlich überhaupt gesehen wird“.

Das Buch bezeugt die Weisheit, die nicht besessen werden kann, die aber uns sich zu eigen machen möchte. Es ruht auf einer Voraussetzung, deren Vollzug allein unsere Zeit heilen könnte; daß wir, um mit Pieper zu sprechen, Piaton und allen wahrhaft großen Lehrern nicht über die Schulter zu schauen uns anmaßen, sondern daß wir ihnen „zuhörend zu Füßen sitzen“.

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