Unbekannter Kontinent

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In Friedrich Heers spätem, nun neu aufgelegtem Werk "Das Wagnis der Schöpferischen Vernunft" erfährt man viel über die Themen, Fragen, Ahnungen und Ängste des rastlosen Denkers.

Friedrich Heer hat den Begriff der "Schöpferischen Vernunft" nicht explizit definiert. Sein Verfahren ist in hohem Maße assoziativ, mäandernd, ein- und umkreisend, immer wieder exemplarisch, schöpfend aus einer Fülle detaillierter Kenntnisse, aber nicht systematisch-begrifflich. In einem nicht veröffentlichten Entwurf zu einer Einführung in sein 1977 erschienenes Werk Wagnis der Schöpferischen Vernunft heißt es dann auch lediglich, dass dieses Buch zu einem "Spaziergang" einlädt durch "die Spiele der schöpferischen Vernunft in den Jahrtausenden, die uns gebildet und verbildet haben: die Geschichte der Freiheiten dieser schöpferischen Vernunft ist die Geschichte ihrer Unfreiheiten, ihrer immer neuen Versklavungen, so wie die Geschichte der Freiheitsbewegungen des Menschen die Geschichte seiner immer neuen Versklavungen ist". Früher hätte man solch einen Ansatz dialektisch genannt, heute ist man eher geneigt davon zu sprechen, dass Friedrich Heer zu einer Zeit, als dies noch lange nicht Mode war, den produktiven Widersprüchen und Verzweigungen, den Vieldeutigkeiten und Mehrfachcodierungen der Vernunft auf der Spur gewesen war.

Vernunft und Mythos

Wohl spricht Heer von "einer" schöpferischen Vernunft - aber es ging ihm darum zu zeigen, in welch mannigfacher Gestaltung sich die Vernunft im Laufe der Zeit entfaltet hat. Der Grundtenor des Buches ist zweifellos wissenschafts- und rationalitätskritisch - gegen den von Jacques Derrida so genannten Logozentrismus insistiert Heer darauf, dass die Vernunft nicht auf das Formallogische, auf das rationale Kalkül reduziert werden kann: Logos ist für Heer immer auch erzählende Rede, Mythos, Logos ist für ihn immer jenes Wort der biblischen Überlieferung, wie es sich am Beginn der Johannesevangeliums findet oder wie es sich für Heer in einem Text des frühchristlichen Hippolyt ausdrückt: "Das Wort sprang vom Himmel in den Leib der Jungfrau, es sprang aus dem Mutterleib an das Holz, es sprang von dem Holz in den Hades, es sprang hinauf auf die Erde wieder - Wort der Auferstehung! Es sprang von der Erde in den Himmel. So setzte es sich zur Rechten des Vaters!"

Darum ging es ihm: Natürlich bedeutet Vernunft die allmähliche Entmythisierung der Welt, bedeutet Aufklärung und Selbstaufklärung des Menschen, bedeutet Freiheit, Subjektivität und Selbstbehauptung; aber diese Entfaltung der Vernunft ist nur möglich als schöpferische Vernunft, die auch imaginiert, erzählt, springt, dichtet, ja, die sich auch, oft und oft, schrecklich irrt, und die dabei weder ihre mitunter Kapriolen schlagende Geschichte noch ihre Wurzeln in klassischer Antike und Hellenismus, in Judentum und Christentum vergessen darf.

Gegenüber einer "reinen" Vernunft, einer "reinen Wissenschaft", die den Irrtum so weit als möglich ausschalten wollen, beharrt Friedrich Heer deshalb auch auf der produktiven Kraft des Irrtums: "Irren ist menschlich. Irren ist göttlich. Irren kann schöpferisch sein. Wir wissen, dass viele und bedeutende Erfindungen und Entdeckungen aus schöpferischen Irrtümern entstanden sind." Dass viele, die am Bau des modernen Europa, der modernen Welt, mitgewirkt und mitgewoben haben, sich auch geirrt haben, schreckt so wenig. Entscheidend ist, welche Kräfte, Einsichten, Perspektiven sich auch noch aus einem Irrtum entwickeln lassen.

Erdichtete Geschichte

Die menschliche Vernunft ist nicht nur erkennend und darstellend, in ihr spiegelt sich nicht - wie in manchen Erkenntnistheorien platt angenommen - einfach die Wirklichkeit wider, sondern sie ist stets in hohem Maße auch schaffend. Heer meint dies in einem durchaus wörtlichen Sinn. Vieles, was die wissenschaftliche Vernunft vorgibt, gefunden zu haben, hat sie erfunden. Für diesen Doppelcharakter der Vernunft als suchender und als imaginierender hat Heer die Kombination "Findung-Erfindung" geprägt.

Exemplarisch hat er an seinem ureigensten Fach, der Geschichtswissenschaft, demonstriert, wie hier kritische Quellenkunde und fiktionales Erzählen zusammenspielen, um jene Vergangenheit zu erzeugen, die die Menschen zur Bewältigung der Gegenwart benötigen.

Heer kann es sich so leisten, einerseits die Fiktionen, ja Fälschungen der Geschichtsschreiber und Chronisten - etwa in der katholischen Kirche - zu bewundern, und andererseits mit dem lange missachteten Theodor Lessing die aufgeschriebene Geschichte als die vergewaltigte Geschichte betrachten, in der unzählige Stimmen zum Verstummen gebracht worden sind: "Die Geschichtsschreibung ist oft blind': sie tilgt die Namen der Unterlegenen, der Völker, der Rebellen, der Ketzer aus. Namhafteste Historiker sind auch blind: sie übersehen, was sie nicht sehen wollen."

Geschichtsschreibung als Geschichtsdichtung ist so von mehreren Seiten zu betrachten: aus der Perspektive der historischen Daten genauso wie aus der Perspektive der Position des Erzählers, die Interessen und der dadurch beengte Gesichtskreis der Gegenwart strukturieren die Geschichte ebenso wie der Nutzen, den man aus der Geschichte für die Zukunft ziehen will. Dass Heer sich mit solchem Konzept von Historie bei seinen akademischen Zunftgenossen wenig beliebt machte, verwundert nicht weiter.

Das Wagnis der Schöpferischen Vernunft umkreist das In-, Mit- und Gegeneinander von Ratio und Einbildungskraft so in unterschiedlichen Zugängen und Ansätzen, ohne diese systematisch verbinden zu wollen. Heer beginnt mit den Erscheinungsformen der schöpferischen Vernunft in jenem Textkorpus, ohne das für ihn diese selbst nicht zu denken ist - die Bibel: "Die Bücher der Bibel sind das größte Zeugnis der Weltgeschichte für die Zusammenarbeit nahezu aller Formen der schöpferischen Einbildungskraft des Menschen."

In diesen Büchern findet Heer sowohl die Quellen, die Urtexte, das Anschauungsmaterial für seine Konzeption der schöpferischen Vernunft, in ihnen findet er die rhetorischen und geistigen Wurzeln für die Modernisierungsschübe der Moderne. Denn auch wenn diese als das Zeitalter der Säkularisierung gedeutet werden kann, hat Heer im Gegensatz zu vielen anderen Theoretikern der Moderne nicht vergessen, dass jede Säkularisierung heilige Texte voraussetzt, auf die sie sich, auch in der Abgrenzung, immer wieder beziehen muss: "Die schöpferischen Denker und Dichter der Bibel haben einem sehr kleinen Volk, das ständig in sich selbst zerstritten war, Lebens-Sinn geschaffen; sie erfanden' ihm einen Gott, sie erfanden ihm eine Geschichte, sie erfanden dann eine Geschichte für die ganze Menschheit: Geschichte als Heils- und Unheilsgeschichte, wobei sie einarbeiteten, was im leibseelischen Untergrund ihrer Volksgenossen verdrängt wurde. Freud und Marx und die kleinen Propheten, die Geschichtsdenker des 20. Jahrhunderts also, sind Söhne dieser Bibel."

Neben der Bibel als Grundlage und der Geschichtsdichtung als die frühesten Erscheinungsformen der schöpferischen Vernunft verfolgt Heer deren Spuren dann unter anderem in der Philosophie und in der "freiesten der Freien Künste", in der Dichtung.

Vernunft und Wahnsinn

Friedrich Heers Reflexionen zum Verhältnis von Vernunft und Wahnsinn gehören sicher zu den beeindruckendsten Partien dieses gedankenreichen Buches. Denn auch hier gilt, dass mit der Pathologisierung des Narren, mit der Denunzierung des Anormalen, des Grenzgängerischen, des Ungewohnten und Außergewöhnlichen als Wahnsinn in der Wissenschaftsgesellschaft unglaubliche kreative Potenziale vernichtet worden sind: "Diese einseitige Stellung aller Kräfte des Menschen auf eine harte intellektuelle, rationalistische' Geistes-Zucht und Körper-Zucht hat zunächst in calvinistischen Predigern und Politikern jenen von Geiz und Ehrgeiz, Rachsucht und Ressentiment geprägten kämpferischen Typ geschaffen, der uns im 19. und 20. Jahrhundert noch in reinen Wissenschaftlern' begegnet." Es ist auch diese methodische und instrumentelle Verkürzung der Vernunftidee, die mit zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts beigetragen hat, die Wissenschaften seien, so Heer mit großer kulturpessimistischer Geste, in die Hände von "Barbaren" gefallen, "an neoprimitive Menschen mit Neanderthalerseelen, die amusisch, unerotisch, unfromm, unhuman ihre' Wissenschaften als Faustkeile, als Schlagwaffen (mit dem Arsenal ihrer rein wissenschaftlichen' Schlag-Worte ausgerüstet) handhaben".

Unabgeschlossen

Am Ende seiner mäandernden, bildungsgesättigten Streifzüge durch die Wege und Irrwege der schöpferischen Vernunft kommt Friedrich Heer zu einer bemerkenswerten Feststellung: "Dies dürfte in absehbarer Zeit zu leisten sein: die Aufzeigung der Einheit der schöpferischen Vernunft', der Ein-Bildungskräfte des Menschen, die in Mythos, Mär, Legende, Religion, Historie, Geschichtsschreibung, in reinen Wissenschaften' ihre oft so undurchsichtigen Spiele treibt." Dass Friedrich Heer das, was er mit dem Wagnis der Schöpferischen Vernunft im Grunde geleistet hat, als Aufgabe beschreibt, ist mehr als nur Koketterie mit der Bescheidenheit. Denn die Rekonstruktion der schöpferischen Vernunft ist so wenig abschließbar wie diese selbst auf einen einfachen Begriff zu bringen.

In den Entwürfen und Verwerfungen dieser Vernunft geht es letztlich immer um die Auslotung jenes Befundes, für den Friedrich Heer eine seiner vielleicht schönsten Formulierungen gefunden hat: "Der letzte dem Menschen unbekannte Kontinent ist der Mensch."

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Gekürzter Vorabdruck der Einleitung zur Neuausgabe von Heers "Wagnis der Schöpferischen Vernunft".

DAS WAGNIS DER SCHÖPFERISCHEN VERNUNFT

Von Friedrich Heer. (Ausg. Werke in Einzelbänden, hg. von Konrad Paul Liessmann). Böhlau Verlag, Wien 2003. 450 Seiten, brosch., e 35,-

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