Unsichtbare Einwanderer aus dem Süden

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Warschau, Busbahnhof West: Jeden Tag kommen hier Hunderte Menschen aus der Ukraine an. Ein Bus aus Kiew fährt vor. Langsam steigen 50 müde Gestalten aus. Sie haben die ganze Nacht und einen halben Tag auf ihrem engen Sitz verbracht, mit Träumen, Hoffnungen oder Sorgen. Viele von ihnen müssen ihr Land verlassen, weil ihr Gehalt nicht mehr zum Leben reicht. Nun suchen sie in Polen nach einer besseren Existenz.

Der Übergang von der einen in die andere Welt wird ihnen leicht gemacht: Der Westbahnhof ist wie eine ukrainische Exklave mitten in Warschau. Überall wird Russisch oder Ukrainisch gesprochen, selbst die Werbetafeln sind in kyrillischen Lettern verfasst: McDonalds sucht Arbeitskräfte und ein Hostel bietet Zimmer in der Sprache der Ankömmlinge. Auch Dmytro Pidhorny, 27, kam hier vor vier Jahren an. Alles, was er bei sich hatte, passte in zwei große Taschen. Heute ist er Inhaber einer Baufirma mit 15 Angestellten.

Derzeit vollzieht sich also eine Migrationsbewegung nach Polen, die zahlenmäßig vergleichbar ist mit der aus Nahost und Afrika nach Deutschland.

Eine Million Immigranten

Nach Schätzungen leben zurzeit rund eine Million Ukrainer in Polen. Die meisten von ihnen sind in den letzten vier Jahren gekommen, nach Ausbruch des Krieges im Osten des Landes und der damit zusammenhängenden Wirtschaftskrise. Es vollzieht sich also eine Migrationsbewegung nach Polen, die zahlenmäßig vergleichbar ist mit der aus Nahost und Afrika nach Deutschland. Nur bekommt diese nicht die gleiche mediale Aufmerksamkeit, denn die Ukrainer werden in Polen in erster Linie als Bereicherung gesehen, nicht als Bedrohung.

Das Land hat massive demographische Probleme: Nach Schätzungen des polnischen Statistikamtes leben zurzeit 2,4 Millionen Polen im Ausland. Seit dem EU-Beitritt 2004 haben Hunderttausende ihre Chance auf ein besseres Leben genutzt und sind nach Großbritannien oder Deutschland ausgewandert. Dazu kommt, dass das Land eine der am schnellsten alternden Bevölkerungen Europas hat und gleichzeitig eine stetig wachsende Wirtschaft. Vor allem in der Gastronomie, der Baubranche, der Landwirtschaft und im IT-Bereich fehlt es an Arbeitskräften. Und den Bedarf decken heute überwiegend Ukrainer.

Dmytro Pidhorny ist einer von ihnen. Als er ankam, konnte er kein Wort Polnisch. Er musste schnell eine Arbeit finden, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Also blieb ihm, dem PR-Manager, der vorher nie körperlich gearbeitet hatte, nur auf dem Bau zu schuften. Zwölf Stunden täglich, sechs Tage die Woche. "Wenn man als Ausländer etwas erreichen will, muss man doppelt so hart arbeiten", erklärt er. Er verdiente drei Euro pro Stunde. Das reichte ihm, um etwas für die Gründung seiner Firma zur Seite zu legen.

Nach einem halben Jahr gründete er seine Firma, er stellte am Anfang zwei Arbeiter aus der Ukraine ein, heute arbeiten 15 Männer für ihn. Der Bedarf für seine Dienstleistungen ist groß.

Pidhorny steht mit Helm auf einem Gerüst im fünften Stock und inspiziert die Arbeit seiner Angestellten. Sie verputzen ein sechsstöckiges Gebäude. "Gut", sagt er auf Russisch. Niemand in seiner Firma ist Pole. Er stellt nur Weißrussen und Ukrainer ein, denn "die arbeiten besser". Wenn man in einem fremden Land nichts hat, habe man eine ganz andere Motivation. Er selbst arbeitet sieben Tage die Woche, rund zwölf Stunden, sagt Pidhorny.

"Ohne die Ukrainer ginge hier nichts", meint er. Ähnlich sieht man das im polnischen Arbeitgeberverband ZPP. Der hat ein Papier herausgegeben, in dem er die gezielte Anwerbung von Ukrainern fordert, um dem Arbeitskräftemangel beizukommen.

In einem Bericht mit dem Titel: "Wie kann die demographische Katastrophe Polens verhindert werden" vom November 2016 schreibt der ZPP, diese würden "hart und gerne arbeiten". "Sie verlassen sich nicht auf Sozialleistungen und wollen ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten." Außerdem fielen sie nicht durch Kriminalität auf.

Ganz anders bewertet der ZPP andere Einwanderer-Gruppen: "Immigranten aus Afrika und dem Nahen Osten neigen dazu, keine Erwerbsarbeit anzunehmen." Das hätten die Erfahrungen Westeuropas gezeigt, vor allem Belgiens, Frankreichs und der Schweiz. Außerdem könne man bei diesen "deutliche Tendenzen zur Kriminalität" feststellen. Mit umstrittenen Aussagen wie diesen ist der ZPP ganz auf der Linie der Regierung, die keine Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen will, sich aber für Zuwanderer aus der Ukraine sehr offen zeigt.

Denn ohne Einwanderung geht es nicht, das hat auch die rechtskonservative PiS-Regierung erkannt. Entwicklungs-und Finanzminister Mateusz Morawiecki sagte auf einem Wirtschaftsforum in Krynica im September letzten Jahres, dass Polen in den nächsten Jahren ein bis zwei Millionen Ukrainer ins Land holen könnte, wenn der Bedarf nicht mehr durch heimische Arbeitskräfte gedeckt werden kann. Nach einer Prognose des polnischen Statistikamtes GUS sinkt die Bevölkerungszahl bis 2050 von derzeit mehr als 38 Millionen auf 34 Millionen. Grund ist die niedrige Geburtenrate.

Die Logik der Regierung lautet: Wenn man schon Einwanderer aufnehmen muss, dann möglichst solche, die kulturell ähnlich sind. Der ZPP drückt es in seinem Bericht so aus: "Das Traumszenario wäre eine Bevölkerungsgruppe, die gerne arbeitet und sich leicht assimiliert, mit einem sehr ähnlichen kulturellen Erbe, einem ähnlichen Wertesystem und Moralvorstellungen."

Kulturelle Ähnlichkeiten

Gewaltakte gegen Ukrainer aufgrund ihrer Herkunft bleiben bislang eine Randerscheinung, während die Anzahl rassistisch motivierter Straftaten allgemein ansteigt. Anti-Flüchtlingsdemonstrationen richten sich vor allem gegen die Aufnahme von Muslimen, nicht gegen ukrainische Einwanderer. Einer Umfrage aus dem April zufolge sind 27 Prozent der Polen positiv gegenüber Ukrainern eingestellt, gegenüber Syrern nur acht Prozent.

Lediglich die rechtsextreme "Die Nationale Bewegung" (Ruch Narodowy) hat das Thema für sich entdeckt und warnt auf Kundgebungen und Pressekonferenzen vor der "Ukrainisierung Polens". Besonders erfolgreich ist sie damit allerdings nicht.

Dmytro Pidhorny will auf jeden Fall in Polen bleiben. Bisher hätten weder er noch seine ukrainischen Bekannten schlechte Erfahrungen aufgrund ihrer Herkunft gemacht. Er blickt vom Gerüst des sechsstöckigen Gebäudes in Richtung der Warschauer Skyline: "Ich will, dass wir in fünf Jahren das größte Gebäude in Warschau bauen", sagt er. "In fünf Jahren will ich nicht 15 sondern 50 Angestellte haben. Alle Ukrainer und Weißrussen sollen wissen, dass sie bei mir immer Arbeit finden können."

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