Unter Männern: Schmerz wird zum Ritual

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Mit Initiationsriten wird seit Jahrtausenden die Aufnahme in die Erwachsenenwelt oder der Übertritt in eine höhere Phase besiegelt. Vor allem in Männerbünden haben sie Tradition. Dabei weisen die Prozeduren oft eine auffällige Gemeinsamkeit auf: den Schmerz.

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Mit Initiationsriten wird seit Jahrtausenden die Aufnahme in die Erwachsenenwelt oder der Übertritt in eine höhere Phase besiegelt. Vor allem in Männerbünden haben sie Tradition. Dabei weisen die Prozeduren oft eine auffällige Gemeinsamkeit auf: den Schmerz.

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Im November dieses Jahres ist es italienischen Ermittlern erstmals gelungen, die Aufnahme neuer Mafiosi in die 'Ndrangheta, die kalabrische und im Moment wohl mächtigste Mafiagruppierung, heimlich mitzufilmen. Auf dem Videomitschnitt schwören die Männer lebenslange Treue und Verschwiegenheit. Dabei sprechen sie rituelle Formeln nach. Auf dem Tisch liegen eine Waffe und eine Hostie. Medien schrieben von "einmaligen und historischen Aufnahmen". Die 'Ndrangheta nennt sich selbst "santa società","heilige Gesellschaft". Man weiß aus dechiffrierten Geheimdokumenten, dass der Clan seine Rituale an sakrale Muster und Strukturen anlehnt. Bis dato kannte man derartige Zeremonien nur aus den Berichten ehemaliger Mitglieder. Bei der Cosa Nostra auf Sizilien oder der neapolitanischen Camorra soll auch Blut fließen. Und Feuertaufen soll es geben: Morden als Aufnahmeritual.

Okkulte Geheimbünde haben Konjunktur. Die Omnipräsenz von Smartphones und Echtzeit-Kommunikation über transkontinentale Glasfaserkabel ermöglichen plötzlich Einblicke in einstmals hermetisch abgeriegelte Sphären. Dabei wird deutlich: obskure Einführungsriten gibt es nicht nur in kriminellen Kreisen - sie haben ihren festen Platz in der Mitte der Gesellschaft.

Phänomen Männerbund

Initiationsrituale werden in den verschiedensten Ausprägungen als symbolisch aufgeladene Handlung zur Selektion von Mitgliedern genutzt. Die Bündnisse, die sich ihrer bedienen, blühen im Verborgenen, begreifen sich als Eliteklubs oder huldigen kriegskameradschaftlichen Erinnerungen.

1902 prägte der deutsche Ethnologe Heinrich Schultz den Begriff des "Männerbundes". Er definierte ihn als geschlossene Gesellschaft mit straffer Organisation. Diese Vereinigungen "erweisen sich", so Schultz, "als die eigentlichen Träger fast aller höheren gesellschaftlichen Entwicklung". Der Mann "verpfändet sein bestes Wesen dem Manne", schrieb Jahre später Hans Blüher. Im Zusammenschluss wird Macht manifest. Ist der männliche Verbündungsdrang genetisch determiniert? Biologen und Psychologen streiten sich, inwieweit Männer mehr als Frauen dazu veranlagt sind, sich zusammenzutun.

Barbara Friebertshäuser, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Frankfurt, beschäftigt sich mit Ritualen. Im Gespräch mit der FURCHE führt sie die geregelte Aufnahme in die maskuline Communitas auf Bräuche archaischer Kulturen zurück. "Jungen leben bis zur Pubertät mit den Frauen, dann werden sie von den Männern geraubt. Wenn sie in den Busch gehen, gelten sie in der Gemeinschaft als tot." Der Ritus sieht vor, dass die Älteren die Jüngeren instruieren, auf das "Danach" vorbereiten. Mutproben müssen absolviert, existenzielle Erfahrungen durchgestanden werden, bis sie als neue Mitglieder der Erwachsenengesellschaft zurückkehren, markiert mit Zeichen, Narben oder Tätowierungen. Dahinter stehe die Motivation, einen neuen Status zu erwerben. "In der westlichen Moderne haben sich diese Traditionen gewandelt, es gibt zum Beispiel keinen Ritus mehr, der den Jungen zum Mann macht", so die Forscherin: "Die Internetgesellschaft wird passiver." Die Faszination, sich im Kampf zu bewähren, sei aber immer noch vorhanden.

"Menschen wollen nicht das Gefühl, sie seien in Watte gepackt." Eine Auswertung von Riten rund um den Globus habe ergeben, dass männliche Rituale mit Schmerz, Selbstaufgabe und Kampfbereitschaft verbunden sind. Die Härte im Bundesheer, deren inoffizielle Abgründe immer wieder den Weg in die Öffentlichkeit finden, gilt vielen als Eintritt ins Mannsein. Von Ritualen wie dem Verzehr roher Leber, Hefe und Rollmöpsen, gefolgt von zügellosem Alkohol und "Show-Erbrechen" ist zu hören.

Mit Erniedrigung zum Aufstieg

Nicht nur beim Militär wird deutlich: Wer dazugehören will, lässt oft brutale Demütigungen über sich ergehen. Die Forschung zeigt, dass in ungleichen Machtverhältnissen Gewalt gedeiht. Männerbünde sind meist hierarchisch organisiert: Man(n) muss sich von unten nach oben kämpfen. Bei schlagenden Studentenverbindungen stellt die Mensur den alles entscheidenden Initiationsritus dar: Wer sich im Fechten beweist, ist drin.

"Viermal pro Woche Pauken, einmal früh, dreimal abends." Ein ehemaliger Anwärter einer Wiener Burschenschaft, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, erinnert sich an jenes Semester. "Als Fuchs (wie man die Novizen nennt; Anm.) musst du unterwürfig sein, den anderen Bier bringen und für sie putzen. Du musst dich in der Mensur blutig dreschen lassen, den Kopf hinhalten - für die Ideale der Gemeinschaft." Bei der Mensur ist der Körper geschützt, der Kopf nicht. Der Paukant trägt zwar einen Augenund Nasenschutz, der Rest des Gesichts liegt jedoch frei.

"Die Vorbereitung und das Ankleiden hatte etwas Feierliches, man schwor sich ein", erzählt er. Die nervliche Anspannung war greifbar. An keinem anderen Tag sei die Zugehörigkeit so spürbar gewesen. Nach dem Duell nähten korpsinterne Ärzte die Wunden zusammen, die Füchse wischten das Blut auf. Diese Bruderschaft besteht ein Leben lang. Nach allem, was man im wahrsten Sinne des Wortes ausficht, überlegt man sich zweimal, den Bund zu verlassen. Dies sei ein inhärenter Zweck harter Aufnahmeriten, sagt Friebertshäuser: "Je schwieriger die Initiation, desto mehr feit das vor Desertion. Der Zutritt bekommt so mehr Bedeutsamkeit, die Mitgliedschaft erscheint elitär."

Quält die Elite besonders gern?

Besonders distinguierte Kreise greifen nicht selten auf ausgesprochen derb anmutende Prozeduren zurück. Das Prinzip der "Bizutage" erlangte Bekanntheit, als der französische Gesetzgeber sich 1998 gezwungen sah, ein Verbot jener allgegenwärtigen Initiationsriten auf Universitäten auszusprechen. Diese fielen oft so drastisch aus, dass die Opfer auf Jahre traumatisiert waren. Sogar Fälle von Selbstmord sind bekannt. Körperliche und seelische Misshandlung gehörten für Erstsemestrige an den Grandes Écoles, den französischen Eliteuniversitäten, zum Pflichtprogramm. Embleme von Studentenverbindungen wurden mit Kronkorken in die Haut geritzt, Stromschläge verabreicht, brennende Kerzen in Körperöffnungen eingeführt, Tierfutter zum Fraß vorgesetzt oder Geschlechtsteile mit Schuhcreme eingeschmiert: die Kreativität für derlei Rituale kannte keine Grenzen. Beim holländischen "Ontgroening","Entgrünung", wurden Studierende laut Tierschutzbehörden gezwungen, Goldfische zu schlucken oder Geschlechtsverkehr mit Hühnern zu haben. Die Demütigung auszuhalten gilt als Eintrittskarte -und als Berechtigung, die Schikanen selbst an Neulinge weiterzugeben. Inwieweit gesetzliche Verbote den Praktiken einen Riegel vorschieben konnten, kann lediglich gemutmaßt werden.

Das markante Merkmal von Riten innerhalb archaischer Gesellschaften ist der streng geregelter Ablauf. "Sie sind eingebettet in einen festen Kontext, in einen Rahmen, der nicht überschritten wird", so Friebertshäuser. "Wenn traditionelle Riten nun nicht mehr existieren, treten Mutproben an diese Stelle. Die Gefahr lauert dort, wo ein Aufsichtsorgan fehlt." Das hat einen Namen: "Selbstinitiation". Brutale Initiationsriten muten anachronistisch an, sie passen eigentlich nicht mehr in diese Zeit. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Offen darüber gesprochen wird in den wenigsten Fällen. Geheimniskrämerei gehört zum System. Das Mysterium ist ein Machtinstrument, eingeweiht zu werden, privilegierter Teil des Rituals.

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