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Vatikan — Geschichte und Gegenwart

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DER VATIKAN. Von Bernard Wall. Henry-Goverts-Verlag, Stuttgart. 320 Seiten. Preis 18.50 DM.

Nach Walls Vorwort handelt es sich „in diesem Buch nicht um religiöse Fragen oder auch nur vorwiegend um die katholische Kirche; sein Gegenstand ist vielmehr die Organisation des Vatikans“ (S. 17). Da ein völliges Beiseitelassen religiöser und kirchlicher Fragen nach dem Ganzheitsprinzip ein einigermaßen richtiges Bild des Vatikans gar nicht zustande kommen ließe, erinnern ausgedehnte Abschnitte des Buches, die in meist recht herber und zuweilen fast zynischer Kritik auch die rein religiösen und kirchlichen Belange belasten, an das Verhalten jener hemmungslosen Gäste einer Dorfschenke, die skrupellos in widerlichster Weise ihren Seelsorger zerzausen und zur Beschönigung ihres Tuns immer wieder die Phrase einflechten: „Geistliche Weih ausgnommen!“ Oder geht es nicht um religiös-kirchliche Fragen, wenn Brevier und Messe, Gnadenstreit und Exerzitien, Mariendogma und Marienkult, Heiligsprechung und Reliquienverehrüng, Heiliges Offizium und Enzykliken, päpstliche Unfehlbarkeit und Belange des religiös-sittlichen Lebens, Klosterwesen und Katholische Aktion, Index und Exkommunikation eingehend erörtert werden?

Darüber hinaus wirken recht störend die vielen Unrichtigkeiten und Einseitigkeiten. Unrichtig ist es, daß die Meßliturgie „zu mehr als der Hälfte aus den Psalmen der Vulgata-Bibel“ (S. 180) und das Brevier „aus einer gekürzten Fassung der Psalmen und den für einzelne Tage und Stunden vorgeschriebenen Bibeltexten“ (S. 224) besteht. Vom Psalterium Pianum, das schon mehr als ein Jahrzehnt im Gebrauch ist, und von der in Gang befindlichen Revision des Missales weiß Wall nichts. Die Religiösen werden eingeteilt in „Mönche, Bettelbrüder und Nonnen“ (S. 268). Unrichtig ist es, daß Pius X. „ein österreichisches Veto gegen den Kardinal Ram-polla verhinderte“ (S. 77). daß der Jesuitengeneral Ricci „in der Engelsburg zu Tode gefoltert wurde“ (S. 300) und daß der Musiker Liszt „in hohem Alter Priester geworden ist“ (S. 65). Bei den teils schiefen Darlegungen über die Heiligsprechung wird der wesentliche Unterschied zwischen dem Titel „ehrwürdig“ und dem Beinamen Bedas des Ehrwürdigen nicht beachtet (S. 142). Ganz einseitig ist der Index der verbotenen Bücher dargestellt (S. 134 ff.). Walls Kritik an ihm zeigt, daß er nur die Liste der „verdammten“ (richtig „verurteilten“) Bücher kennt, nicht aber die entscheidenden allgemeinen Indexregeln. Das Corpus Iuris Canonici „erfaßt alle praktischen Anwendungsmöglichkeiten der katholischen Morallehre auf das Leben (also eine Kasuistik der Zehn Gebote?!), seine Normen regeln ... alle Vorschriften über Ehe, Geburtenkontrolle (welcher Canon?) und so weiter“ (S. 143). Auch erweckt die Schilderung der außerkirchlichen Verweltlichung mancher Feste in Italien ein ganz falsches Bild, wenn ihr nicht auch die gottesdienstliche Feier in den Kirchen gegenübergestellt wird (S. 207 f.). Ebenso dürfen zeitgeschichtlich bedingte Erscheinungen, wie die Inquisition (S. 132) oder die soziale Ungleichheit früherer Zeiten (S. 61), nicht mit den Anschauungen des 20. Jahrhunderts gemessen werden. Nur wer der Demokratie nichts anderes als die Despotie entgegenzustellen weiß, kann behaupten, daß „der Katholizismus gerade mit den Despoten stets im Bunde gewesen sei“ (S. 196). Eine maßlose Ueber-treibung ist die Frage, „was die Klöster hätte hindern können, heute ganz Europa und Amerika zu besitzen“, wenn es nicht „in nahezu allen Ländern zu irgendeinem Zeitpunkt einmal zur Plünderung und Aufhebung von Klöstern gekommen wäre“ (S. 271). Wenn Wall meint, heute hänge „die Zukunft des Vatikans vorwiegend von den Staaten der Neuen Welt ab“ (S. 182), so könnten Kenner dieser Neuen Welt ebensogut auf den Gedanken kommen, die katholische Kirche habe vom Osten alles zu fürchten und vom Westen nicht viel zu hoffen. Die Katholische Aktion ist für Wall „eine weitgespannte Organisation auf päpstlich-klerikaler Grundlage“ (S. 216). Es ist schade, daß er den oft gebrauchten Ausdruck „Klerikalismus“ nie näher umschreibt. Er scheint damit alles treffen zu wollen, was ein Hinauswirken des Klerus über Kirche und Sakristei bedeutet. Sollte diese Annahme richtig sein, könnte der Gegensatz ein Laikaiismus werden, der der Kirche vielleicht viel mehr schaden würde, als ihr irgendwelcher Klerikalismus jemals geschadet hat.

Noch bedenklicher als alle Unrichtigkeiten und Einseitigkeiten ist der Geist liebloser und ungerechter Kritik, der das ganze Buch durchzieht. Auch wo man das Was der Kritik noch billigen könnte, ist das Wie, der Modus scribendi, abzulehnen. Man hat stark den Eindruck, Wall fühle sich berufen, wie ein Inquisitor des 20. Jahrhunderts über alles zu Gericht zu sitzen, was nicht in seine selbstherrliche angelsächsische Reportermentalität paßt. Seine Schilderung vom Inneren der Peterskirche kommt über eine scharfe Kritik am römischen Reliquien- und Gräberkult nicht viel hinaus (S. 24). Während er bei der Beschreibung der Borgia-Säle allen Schmutz der Aera Alexanders VI. ausbreitet (S. 3 5 ff.), werden die berühmte Bibliothek und die ausgedehnten Museen des Vatikans kaum erwähnt. Die Schilderung der Kurienkardinäle ist im ganzen genommen ungerecht und läßt jede Pietät gegen die obersten Mitarbeiter des Papstes vermissen (S. 83 f.). Wenn Wall bei der Schilderung des Vorzimmers der Papstaudienz die als Kunstwerke „einfach grauenhaften“ Porträts der letzten Päpste durchhechelt, bei Pius IX. „den schmollenden Zug um den Mund“ vermißt, Leo XIII. „Voltaire nicht ähnlich genug“ findet und für Pius X. das Epitheton „venezianischer Bauer“ bereithält, so fragt man sich, was etwa ein hochstehender englischer Lord sagen würde, wenn ein Zeitungsreporter sein Wartezimmer so taktlos behandelt hätte. Zuweilen hat man den Eindruck, daß eine Dispens vom achten Gebot Gottes vorliegen müsse. Wenn in Rom ein paar fragwürdige Krakeeler mit roten Talar-säumchen beim Frascatiwein dem Heiligen Vater zumuten, er habe Pius X. heiliggesprochen und den Seligsprechungsprozeß Pius' IX. einleiten lassen, um Präzedenzfälle zu schaffen, weil er auch selber damit rechne, einmal heiliggesprochen zu werden, so ist das bedauerlich, aber schließlich nichts Weltbewegendes, aber noch viel bedauerlicher ist es, wenn ein Schriftsteller solche pietätlosen Verdächtigungen in alle Welt hinausträgt. Kleinlich und völlig zwecklos ist seine wiederholte Kritik an legendären Heiligen und unechten Reliquien, da doch die ganze katholische Welt weiß, wie die Kirche gerade in unseren Tagen sich vor jedem Fortschritt der Wissenschaft beugt, geschichtlich Unhaltbares auszuschalten sucht und sogar schon Weisungen gegeben hat, nicht einwandfrei echte Reliquien aus den öffentlichen Kirchen zu entfernen. Recht abgeschmackt sind die öfteren Hiebe auf- die Keuschheit der Irländer, die gerade einem Engländer recht wenig gut anstehen. Wenn Wall den Jesuitenorden mit seinen 34.000 Mitgliedern deshalb kritisiert, weil sie ihm zuwenig Bedacht nehmen auf einen künstlerisch hochwertigen Schmuck ihrer Sprechzimmer, so dürfte solch kleinliches Herumnörgeln einem denkenden Leser ungefähr so ähnlich berechtigt erscheinen, wie wenn man einen großen Gelehrten anpöbeln wollte, weil er nicht ganz salonfähige Schuhbänder hat. Wenn die neben den Protestanten aufgewachsenen nord-ländischen Katholiken manche extreme Formen der Marienverehrung in den romanischen Ländern schwer verstehen können, so ist das verständlich, obschon der wirkliche Kenner der „romanischen“ Frömmigkeit über vieles milder urteilen wird. Aber auf keinen Fall ist Wall berechtigt, über den Marienkult der Südländer die ätzende Lauge billigen Spottes auszuschütten. Wenn er aber sogar das jüngste Mariendogma angreift und meint, die „materielle“ Himmelfahrt Mariens „stütze die materialistische Richtung innerhalb der Kirche“ (S. 102), so geht dies über Pietätlosigkeit schon sehr weit hinaus. Am widerlichsten empfindet man Walls Kritisiersucht bei der Besprechung der obersten Glaubensbehörde, des heiligen Offiziums (S. 132 ff.). Es ist schon stark, welin er es „das Büro der Gedankenpolizei“ nennt und in seiner Arbeitsweise mit dem Intellicence Service oder einer Kremlbehörde vergleicht. Doch

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