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Anders als der Titel "Kannibalen" vielleicht vermuten lässt, ist der Roman des marokkanischen Schriftstellers Mahi Binebine ein Buch über gesellschaftliche Missstände und die Liebe zum Nächsten.

Seit einigen Jahren meldet sich die Stimme von Menschen, die den afrikanischen Kontinent verlassen wollen, um eine Hintertür in das gelobte Land Europa zu suchen, immer häufiger in Form von journalistischen Texten, die sich mitunter durch literarische Qualitäten hervortun. Wir wissen ganz genau, dass Schengen nichts nützt ("Nous savons bien que Schengen ne résout rien") - so steht es im Vorwort eines dieser Bücher. (Henri Leclerc in: Fawzi Mellah, Clandestin en Méditerranée, Tunis, Cérès, 2000).

Die inhumanen Aspekte einer Politik, die aus dem einstigen Kontinent der Kolonisatoren und dem heutigen Kontinent der Reichen eine Festung zu machen sucht, finden ihr Echo in Form eines narrativen Diskurses, der durch kritische Analysen und wirklichkeitsnahe Berichte der verbreiteten Immigrantenfeindlichkeit entgegenwirken will.

Was den neuen Roman des marokkanischen Schriftstellers und Malers Mahi Binebine anlangt, so vereint er das Gepräge des Zeitzeugnisses mit der Höhenlage des sprachlichen Kunstwerks. Da die Übersetzung von Patricia Hladschik dem Niveau des Textes gerecht wird, ist festzuhalten, dass dem Innsbrucker Haymon-Verlag wieder ein guter Griff in das reiche Angebot der nordafrikanischen Literatur gelungen ist.

Flüchtlingsschicksale

Auf den ersten Blick ist diese Geschichte einer Gruppe von Exilaspiranten unter der Führung eines Schlep-pers durchaus konventionell strukturiert. Die Flüchtlinge erscheinen zunächst als Kollektiv, einheitlich geprägt von Verzweiflung und Hoffnung. In der Folge treten durch das Wechselspiel von Gegenwart und erzählter oder reflektierter Erinnerung Einzelschicksale hervor, um sich zu einer lockeren Episodenreihe zusammenzufügen und so das Erbe der Rahmenerzählung in der östlich-westlichen Novellistik (von Tausendundeiner Nacht zum Decameron) zu erneuern. Allerdings wird der Romancharakter durch einen vom Anfang bis zum Ende agierenden Ich-Erzähler verstärkt: Azuz hat als Zögling einer Missionsschule bessere Zeiten gekannt, bevor ihn der Mangel an Entfaltungsmöglichkeiten in seiner Heimat aus der Bahn warf und ihn veranlasste, zusammen mit seinem Cousin Reda nach einem neuen Leben jenseits der Straße von Gibraltar zu suchen.

Um diese beiden gruppieren sich die anderen Personen: Nuara sucht den von ihr leidenschaftlich geliebten Ehemann und Vater ihres Babys, der nach Frankreich gegangen ist und lange nichts mehr von sich hören ließ. Der Algerier Kasem Djudi hat seine Familie in einem Massaker durch islamistische Fanatiker verloren und will jenseits des Maghreb ein neues Leben beginnen. Da gibt es noch die Schwarzafrikaner Pafadnam und Jarsê, ferner Jussef aus Marrakesch. Sie alle gehorchen dem düster-autoritären Schlepper, vertreiben sich die Zeit des Wartens am Strand mit ihren Rückblicken und Träumen, bis das nächtliche Fischerboot, auf das sie in einem gebrechlichen Kahn zurudern werden, am Horizont erscheint.

Auf das Besondere an diesem Buch verweist zunächst der Titel, der durch den Alptraum einer Figur erklärt wird. Morad, der Träumende, ist selbst kein Mitglied der Gruppe, sondern ein mehrfach von den französischen Behörden Ausgewiesener, der seine Frustration in Beredsamkeit umsetzt und auf diese Weise andere, zum Beispiel den Protagonisten Azuz, zum Fluchtversuch animiert hat. Morads fundamentales Leiden an einem Identitätsverlust durch Ausbeutung und erzwungene Anpassung, der niemals durch die erhoffte Integration belohnt worden ist, manifestiert sich in seinem Traum durch den stückweisen Verkauf seines Körpers an einen an Menschenfleisch interessierten europäischen Kleinbürger. Selbstentäußerung, so erinnert sich Azuz, hat es schon früher im nordafrikanischen Kontext gegeben: in der vorigen Generation wurde der alte Ali unter dem Kolonialregime durch Zwang und schöne Worte zum Soldaten im Dienste fremder Interessen gemacht und quer durch eine für ihn unüberschaubare "Geographie" geschickt. Letzten Endes hat das ganze Nord-Süd-Gefälle, das ganze menschenverachtende Spiel zwischen den Festsitzenden und den Entwurzelten kannibalischen Charakter. Auch die Gruppe, von der der Roman erzählt, wird verschlungen (von einem Meer, das zum Tötungsinstrument in einem afrikanisch-europäischen Spiel der Perversionen wird), um hierauf als Ansammlung von angeschwemmten Wasserleichen über irgendeinen Bildschirm zu flimmern.

Der Leser fragt sich, wie es kommt, dass nur der Protagonist Azuz und sein Alter Ego Reda überleben. Bei der Suche nach einer Erklärung stößt man auf eine philosophisch-religiöse Gedankenwelt, die sich gleichsam hinter dem Romangeschehen eröffnet und besonders im Zusammenhang mit einer Erinnerung der Cousins an die Oberfläche dringt. Vor vielen Jahren hat eine Tante der beiden ihr Kind, das der Spieltrieb verleitet hatte, Essbares zu vernichten, zum Krüppel geschlagen: nicht aus Unmenschlichkeit, sondern unter dem Druck einer Armut, welche die afrikanische Seite des "kannibalischen" Zwangssystems prägt und die Menschen zu konditionierten Automaten macht. Als dieser Frau bewusst wurde, was ihre Tat bedeutete, hat sie sich durch Selbstmord bestraft. In der Gegenwart, inmitten der Emigrantengruppe, spielt Reda durch Krankheit und Kleinmut die Rolle des lästigen und peinlichen Kindes, das den Belastungen des Flüchtlingsdaseins weder physisch noch psychisch gewachsen ist.

Last Mensch

Der Erzähler hat allen Grund, dieses Häufchen Mensch, diesen Geringsten unter allen Mitgliedern der Gruppe als eine Last zu empfinden. Als die Gefährten nach langer Wartezeit endlich das Boot durch die Brandung schieben, ist Reda einfach zu schwach, um mitzutun und seinen Platz zu sichern. Aber im entscheidenden Moment bringt es Azuz nicht fertig, seinen jämmerlichen Cousin im Stich zu lassen. Daher fährt das Boot ohne die beiden "Versager" aufs Meer hinaus, in den Tod. Spätestens angesichts dieses Endes stellt der Leser fest, dass er nicht nur einen Roman über soziopolitische Missstände in der Gegenwart in Händen hält, sondern auch ein Buch über die Liebe zum Nächsten.

Kannibalen

Roman von Mahi Binebine.

Aus d. Franz. von Patricia A. Hladschik.

Haymon Verlag, Innsbruck 2003.

153 Seiten, geb., e 16,40

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