Vermischte Religionen

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Die vietnamesischen Mischreligionen "Caodaismus" und "Hoa Hao" sind Belege einer einzigartigen kulturellen und religiösen Anpassung.

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Die vietnamesischen Mischreligionen "Caodaismus" und "Hoa Hao" sind Belege einer einzigartigen kulturellen und religiösen Anpassung.

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Der Osten atmet Religion. Seit mindestens 2500 Jahren prägen indischer Buddhismus, chinesischer Konfuzianismus und Taoismus das Morgenland. Dem Mythos Vietnam jedoch verspricht erst die Beschäftigung mit dem asiatischen Synkretismus näher zu kommen: mit den modernen Mischreligionen "Caodaismus" und "Hoa Hao".

Die Hauptsäulen des Caodaismus bilden Buddhismus, Konfuzianismus und Taoismus, verknüpft mit Hinduismus und Christentum. Und so lautet die - etwas blumige - Übersetzung des Wortes "Coadaismus" auch "Fünf Zweige des Großen Weges". Begründet wurde diese Mischreligion, die einige Millionen Anhänger zählt, von einem vietnamesischen Beamten der französischen Kolonialverwaltung. Ihm erschien im Jahr 1925 Cao Dai ("höchstes Wesen") während einer spiritistischen Sitzung und trug ihm auf, die neue Lehre zu verbreiten.

Auch die Entstehungsgeschichte der zweitwichtigsten modernen Religionsgemeinschaft in Vietnam, "Hoa Hao", liest sich ähnlich. Im Jahr1939 hatte ein junger Mann in seinem Heimatdorf Ap Hoa Hao im Fieber religiöse Visionen, wurde jedoch schlagartig wieder gesund. Er zog nach seiner Genesung durch die Dörfer des Mekongdeltas und heilte Kranke mit "von Gott eingegebenen Zaubersprüchen". Dadurch wurde er zu einem in der Provinz bewunderten Religionsführer - und für die französische Kolonialmacht verdächtig. Man sperrte ihn in eine Nervenheilanstalt, wo es ihm jedoch gelang, mit Hilfe seines behandelnden französischen Psychiaters freizukommen.

Der Vietnamkonflikt, das 30-jährige militärische Desaster von zwei Supermächten, verdient es auch, anhand seiner inneren psychoreligiösen Strömungen betrachtet zu werden. So muss bei Ho Chi Minh (von der 68-er Generation in Europa liebevoll "Onkel Ho" genannt), der nun im Mausoleum von Hanoi einbalsamiert zu bewundern ist, auf eine ähnliche Geschichte bezüglich seines Geisteszustandes hingewiesen werden: Von der französischen Fremdenpolizei in Paris 1913/14 observiert, musste er sich einem Verhör unterziehen und soll laut Protokoll auf alle Fragen nur mit einem "blöden und stupiden Lächeln" geantwortet haben, sodass die Polizei enerviert alle weiteren Nachforschungen einstellte.

Während sich in der westlichen Hemisphäre seit ungefähr 1900 die hauptsächlich friedliebende Botschaft des Buddhismus als Alternative zur christlichen Kulturgeschichte verbreitete, leisteten die Vietnamesen einen schmerzhafteren kulturellen Anpassungsprozess als alle anderen Völkern der Region - die Kambodschaner ausgenommen. So verehren die Caodais in ihren Tempeln neben Konfuzius, Buddha und christlichen Symbolen - Maria, die Mutter Gottes, wird beispielsweise als buddhistischer Bodhisattva ("Erleuchtungs-Wesen") dargestellt - auch noch Jeanne d'Arc, Sir Isaac Newton, Victor Hugo, Chateaubriand und Descartes als Heilige.

Zwischen 1945 und 1954, als sich diese Religion von 100 Mitgliedern auf zwei Millionen verbreitete, transportierten Ho Chi Minhs Soldaten auf Peugeot-Fahrrädern selbstgebastelte Waffen und Munition, die gegen die Franzosen eingesetzt wurden. Die buddhistische Hoa-Hao-Sekte hatte von Anfang an bewaffnete Streitkräfte aus rekrutierten Reisbauern an ihrer Seite. Es war ihr Anspruch, nach chinesischem Vorbild die feudalistisch strukturierte Bauernschaft zu befreien.

Wechselnde Fronten Noch 1944 kämpften sie gegen die Franzosen; ein Jahr später gegen ihre Landsleute, die nordvietnamesischen Kommunisten, danach mit der kommunistischen Viet-Minh wiederum gegen die Franzosen. Als ihr Prophet namens "So" von "Ho" (Ho Chi Minh) liquidiert wurde, ordneten sich die einst anti-aristokratischen Bauernbefreier dem in Monte Carlo residierenden, letzten vietnamesischen Playboy-Kaiser Bao Dai unter und kämpften weitere sieben Jahre wieder gemeinsam mit den Franzosen gegen die Kommunisten.

Auch im heutigen Vietnam finden sich solche Disparitäten: Die sozialistische Republik räumt laut Verfassung der kommunistischen Partei eine Monopolstellung ein und bekennt sich gleichzeitig ohne ideologische Probleme zur freien Marktwirtschaft.

Während uns die etwa 300 Jahre alten Reise- und Missionsberichte die damals "hinterindisch" genannten Völker als kontemplative Menschen beschreiben, kann sich heute jeder Pauschalreisende im rasenden Verkehr der Metropolen Bangkok oder Saigon vom Gegenteil überzeugen. Die rasche Anpassungs- und Auffassungsgabe, besonders bei den Vietnamesen, entwickelt eigenwillige Situationen, in denen analphabetische Reisbauern die eigenen oder die englischen Schriftzeichen buchstäblich auf der Tastatur im Internetcafe erlernen.

Auf asiatischer Religionsebene setzt man sich im Namen der Freiheit seit jeher über die Gesetze der Logik hinweg. So spielte 1963 der vietnamesische Buddhismus eine entscheidende Rolle im Kriegsgeschehen. Der buddhistische Mönch Thich Quang Duc setzte sich, umringt von etwa hundert weiteren Mönchen, auf einen verkehrsreichen Platz in Saigon. Schweigend wurde ihm von einem Begleiter ein Sitzkissen gereicht, gleichzeitig entleerte ein anderer Mönch einen Benzinkanister über seinem Kopf. Der amerikanische Korrespondent und Fotograf Malcolm W. Browne wurde durch eine zugeflüsterte Ankündigung der Buddhisten zu dem Ort der Selbstverbrennung quasi geladen. Er berichtete: "Aus einer Entfernung von etwa sieben Metern konnte ich sehen, wie Thich Quang Duc mit einer leichten Bewegung seiner Hände ein Streichholz anzündete. Er blieb, seine Hände im Schoß gefaltet, fast zehn Minuten aufrecht, während sein Fleisch an Kopf und Körper brannte". Die Fotos der dramatischen Selbstverbrennung und die Tatsache, dass sich in den nächsten Wochen vier weitere Mönche öffentlich in Südvietnam verbrannten, rüttelten die amerikanische Öffentlichkeit auf. Der "Vietnamkonflikt" wurde zum Medienkrieg.

Die etwa fünf Jahre später einsetzende Studentendemonstrationen in Paris oder Berlin hatten keinen Bezug zum Buddhismus, sondern wurden vom amerikanischen Imperialismus her gedeutet. Im Bann der "sozioökonomischen Faktoren" unternahmen die europäischen Intellektuellen keine Mühe, auf die religionsgeschichtlichen Hintergründe einzugehen.

Tragische Folgen Eben dadurch passierte genau am Ende des Vietnamkrieges 1975 ein tragisches "Nachbeben": der Genozid im neutralen Nachbarland Kambodscha. Maoistische "Rote Khmer" kämpften, anerkannt von der UNO, Amerika und Deutschland, zuerst im Namen einer totalen Kulturrevolution gegen das eigene Volk und dann 20 Jahre gegen Vietnamesen und den Marxismus-Leninismus.

Alle Völker Südostasiens hatten nach 1945, auf dem mühsamen Weg zur Nationenbildung und unter der Abhängigkeit Chinas, durch Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus und Ahnenkult gemeinsame kulturreligiöse Werte. Mao Tse-tung und Ho Chi Minh, der Dämon Pol Pot und der 1963 ermordete, katholische Diktator Diem in Südvietnam: Sie alle sahen sich auch als religiöse Führer oder mussten vom Volk, schon auf Grund eines inszenierten Personenkultes, als solche interpretiert werden.

Doch das Ergebnis von über 30 Jahren Krieg der Ideologien ist Geschichte. Das "befriedete Südostasien", Vietnam und Kambodscha, ist seit zehn Jahren am Weg in die industrielle Konsumgesellschaft und verlangt nach geistigen Opiaten: Traditionelle Religionen, auch Katholiken, amerikanische Sekten und sogar Muslime sammeln Anhänger.

Die Konflikte haben sich nun vom militärischen Feld auf die Ebene des Massentourismus verlagert: Auf der Suche nach neuen Lebensformen wird den Europäern in Vietnam das erfolgreiche Kulturexempel einer perfekten Anpassung geboten.

Der Autor ist freier Journalist.

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