Versuch einer Ehrenrettung des Dogmas

19451960198020002020

Ein posthum publiziertes Buch des 2004 verstorbenen Innsbrucker Dogmatikers Raymund Schwager plädiert für einen neuen Blick auf das Dogma: Nicht um die Ausgrenzung abweichender Meinungen geht es, sondern ums Ringen um einen tragfähigen Konsens.

19451960198020002020

Ein posthum publiziertes Buch des 2004 verstorbenen Innsbrucker Dogmatikers Raymund Schwager plädiert für einen neuen Blick auf das Dogma: Nicht um die Ausgrenzung abweichender Meinungen geht es, sondern ums Ringen um einen tragfähigen Konsens.

Werbung
Werbung
Werbung

Dogma" gehört fürs Gros der heutigen Zeitgenoss( inn )en wohl zu den Begriffen mit eindeutig negativem Beigeschmack: "Dogmatisch" fungiert in der Alltagssprache als Synonym für "rechthaberisch" oder "fundamentalistisch", und auch innerhalb der katholischen Kirche gelten die Dogmatiker oft nicht gerade als Inbegriff der Liberalität -wobei die Klammer für die politisch korrekte weiblichen Form andeutet, dass Frauen in diesem Teilgebiet der katholischen Theologie nach wie vor Seltenheitswert haben.

Was sollte also einen aufgeklärten Zeitgenossen oder gar eine ebensolche Zeitgenossin dennoch dazu veranlassen, sich für eine Rehabilitierung des Dogmas zu interessieren, vielleicht sogar Raymund Schwagers posthum veröffentlichtes Werk "Dogma und dramatische Geschichte" zu lesen? Ist die dogmatische Logik nicht einfach verschleierte kirchliche Machtpolitik, der -mittlerweile aufgrund des kirchlichen Machtverlusts ohnehin anachronistische - Versuch, Menschen zu disziplinieren und zu kontrollieren?

Problematik der Dogmenbildung

Zunächst: Der bis zu seinem Tod in Innsbruck lehrende Raymund Schwager SJ (1935-2004) war sich der Problematik der Dogmenbildung durchaus bewusst: Schon der Begriff "Dogma" rieche nach Getto, nach Fanatismus und Gewalt, nach Diffamierung von Alternativen und blindem Gehorsam, gibt der Dogmatiker zu. Auch er konnte mit einem machtpolitischen Verständnis des Dogmas, das wesentlich auf der Logik des Ausschlusses Andersdenkender beruht, nichts anfangen. Vielmehr schien ihm bereits seit Anfang der 1970er Jahre das menschheitsgeschichtlich tief verwurzelte Verhältnis zwischen Religion und Gewalt als eine der zentralen religionspolitischen und spirituellen Herausforderungen der Zukunft - eine Intuition, die sich angesichts gegenwärtiger Entwicklungen als prophetische Aussage zu bestätigen scheint.

Ein Grund mehr, sich im Namen von Freiheit und Frieden von der dogmatischen Logik als der Suche nach einer verbindlichen Wahrheit endgültig zu verabschieden? Keineswegs!, lautet Schwagers überraschende Antwort. Die wissenschaftliche Begründung dafür liefert er mittels eines fundierten theologiegeschichtlichen Durchgangs durch die Entwicklung der christlichen Lehre von der Trinität und von Jesus Christus als wahrem Mensch und wahrem Gott, wobei er den Fokus in besonderer Weise auf Rivalitäten, machtpolitische Interessen und Diffamierungen der jeweiligen Gegner richtet.

Auch für die Gegenwart relevant

Was vorderhand als eine nur Expert(inn)en interessierende Spezialstudie erscheinen könnte, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ebenso brisante wie gegenwartsrelevante Analyse komplexer Entscheidungs- und Konsensbildungsprozesse. Auch wenn diese keineswegs immer ideal abgelaufen sind und ein hohes Maß an Ungerechtigkeiten, politischer Manipulation und Gewalt einschlossen, gab es in deren Verlauf immer wieder Umbrüche und echte Versöhnungsbereitschaft, verbunden mit der Einsicht, dass auch der Gegner legitime Interessen verfolgt. Wo es schließlich über lange, dramatisch verlaufende Auseinandersetzungen zu echter Versöhnung zwischen den Konfliktparteien kam, stieß man zu völlig neuen, bis dahin so für beide Lager nicht denkmöglichen Einsichten vor und bahnte damit den Weg für fundamentale Kategorien des gegenwärtigen Denkens. Ein Beispiel dafür ist das heutige Person-und Freiheitsverständnis, das ohne die frühchristlichen Auseinandersetzungen um die Person Jesu und die göttlichen Personen nicht in dieser Weise möglich gewesen wäre.

Zentral ist in diesem Kontext auch das von Schwager entwickelte Verständnis von dogmatischer Wahrheit: Von einem authentischen Dogma kann erst gesprochen werden, wenn auch die berechtigten Anliegen der Gegner mit in die Formulierung aufgenommen wurden und damit ein echter, tragfähiger Konsens erreicht wurde. Das allerdings hat weitreichende Folgen: So lassen sich vor diesem Hintergrund nicht nur manche kirchengeschichtliche Verurteilungen hinterfragen - als Paradebeispiel dient Schwager die lehramtliche Verurteilung des Nestorius (381-451), die er schlicht als ungerecht ablehnt.

Auch viele der kirchenpolitischen Dauerthemen der Gegenwart können aus dieser Perspektive jenseits der antagonistischen kirchenpolitischen Lager neu aufgerollt werden: der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen, wo eine ganze Gruppe von Menschen aus der sakramentalen Gemeinschaft ausgeschlossen wird, wird ebenso hinterfragbar wie der von Johannes Paul II. in die Nähe eines Dogmas gerückte Ausschluss von Frauen vom Weiheamt.

Nicht der Dogmatisierungsprozess selbst, also das Ringen um einen gemeinsam vertretbaren Konsens im Verständnis der christlichen Heilsbotschaft, erweist sich somit als Problem, sondern die Tatsache, dass diese Prozesse oft - um eines Scheinfriedens oder einer Scheinklarheit willen -nicht konsequent durchgegangen, sondern verfrüht und oft durch einseitige Machtausübung abgebrochen wurden und werden. Schwager zeigt auf, wie solche Nicht-oder Scheinlösungen in der Vergangenheit kontraproduktive Folgen nach sich zogen. Damit gibt er jedoch Anlass zur Vermutung, dass solche auch gegenwärtig drohen, wo keine integrativen Lösungen gefunden werden.

Die Autorin ist wiss. Mitarbeiterin am Inst. f. Sozialethik der Kath.-Theol. Fakultät der Uni Wien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung