Viele Bilder, kein Mosaik

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Der 26. April 2000, der 500. Jahrestag der ersten Messe auf brasilianischem Boden, war Höhepunkt der Jubiläumsfeiern im südamerikanischen Land: Allein beim Festgottesdienst konzelebrierten 2.400 Bischöfe. Doch: Vielen Brasilianern ist nicht nach Feiern zumute.

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Der 26. April 2000, der 500. Jahrestag der ersten Messe auf brasilianischem Boden, war Höhepunkt der Jubiläumsfeiern im südamerikanischen Land: Allein beim Festgottesdienst konzelebrierten 2.400 Bischöfe. Doch: Vielen Brasilianern ist nicht nach Feiern zumute.

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In aller Stille wird ein Sarg vorübergetragen. Die Trauergäste: junge Leute in Alltagskleidern. Der, der hier beigesetzt wird, dürfte auch nicht alt sein. 30 Menschen pro Tag werden hier beerdigt, erzählt der Wärter des Friedhofs Sao Luis im Süden Sao Paulos. Und von diesen 30 sind mindestens zwei Drittel jünger als 22: Jugendliche aus der benachbarten Favela, die im Krieg um Drogen sterben, unter den Kugeln der Polizei oder im Kampf rivalisierender Banden. Keine zehn Minuten dauert die Beisetzung. Priester sind bei solchen Anlässen längst nicht mehr dabei, sagt der Friedhofswärter.

Tod, Gewalt, Aussichtslosigkeit. Darüber ließe sich viel erzählen in Sao Paulo, in Brasilien. Aber genau so könnte man die Lebenslust beschreiben, den Samba-Takt, die Dynamik eines überwiegend jungen Landes. Jeder Besucher, jeder Bewohner hat sein Brasilien im Kopf, findet Bilder, die in sein Mosaik passen. Jede Sammlung von Eindrücken ist subjektiv; diese auch.

Sao Paulo, die Megalopolis. Überdimensioniert, unmenschlich. An die 22 Millionen Menschen, schätzt man, leben hier. Aber genaue Zahlen sind nicht zu bekommen. Der Straßenverkehr ist zermürbend, endlose Staus gehören zum Alltag. Schwer zu glauben, die Geschichte von den eingefleischten "Paulistas", die sich von diesem Stadtriesen nicht lossagen wollen und nach Versuchen, dem Wahnsinn der Großstadt zu entkommen, reumütig nach Sao Paulo zurück kehren. Welches Brasilien-Bild haben sie im Kopf?

Die Flucht vom Land in die Städte ist ungebremst. Eine fehlende oder nicht ausreichende Agrarreform raubt den Bauern jede Perspektive. Sie flüchten in die Städte, werden in Elendsvierteln zusammengepfercht oder leben auf der Straße. "Sem terra", die Landlosenbewegung, hat eine Schwester in der Stadt: "Sem tetto", die Bewegung der Obdachlosen. Beide Menschenrechtsbewegungen stammen aus kirchlichen Wurzeln. Die katholische Kirche des Kontinents habe die "politische Dimension des Glaubens wiederentdeckt", formuliert Clodovis Boff, Theologe in Rio de Janeiro.

Gilberto Santos Silva, ein etwa 30jähriger Mitarbeiter der katholischen Organisation "Missionare der Leidenden der Straße", ist unterwegs zu einem unscheinbaren alten Bankgebäude. Gestern ist es von einer Gruppe obdachloser Familien besetzt worden ist. 200 junge Familien mit Kindern. Wo immer sie versuchten, Fuß zu fassen, wurden sie von der Polizei vertrieben. Die Besetzung des Hauses sei ihre letzte Chance gewesen, sagt ein Sprecher der Gruppe. Gilberto versorgt die Leute mit Lebensmitteln, steht ihnen in juristischen Belangen und in der Auseinandersetzung mit der Polizei zur Verfügung. Er wolle für sie kämpfen, sagt er, bis sie Wohnung und Arbeit haben. Sao Paulo, die Riesenstadt, Brasilien, das Riesenland: Sie haben zu wenig Platz für ihre Bewohner. Gilberto Santos bedauert sehr, dass nur ein kleiner Teil der Kirche seine Arbeit unterstützt, während sich, wie er sagt, ein Großteil der Katholiken aus jeglicher Verantwortung für die Armen heraus halte.

Rossi- vs. Arns-Kirche "Früher waren wir mit achtzig Stundenkilometern unterwegs, jetzt vielleicht noch mit vierzig oder fünfzig", bestätigt Clodovis Boff und meint das soziale Tempo der katholischen Kirche. Obwohl die Kirche in wesentlichen sozialpolitischen Fragen weiterhin einig sei, sei das "prophetische Niveau des Durchschnitts der Bischöfe" niedriger geworden, ebenso habe die soziale Präsenz abgenommen.

Für eine politische Kirche in dem überwiegend katholischen Land steht nach wie vor Paulo Evaristo Arns, der Alterzbischof von Sao Paulo. Gerade in der anonymen Großstadt, die den Menschen letztlich fremd bleibe, sagt Arns mit dem kräftigen Deutsch der Einwanderer, müsse die Kirche kleine Gemeinschaften bilden - um Menschen anzuregen, die Welt im Sinne Christi zu verändern. Aber dem Konzept der Basisgemeinden, die mit der Bibel in der Hand ihre soziale Situation analysieren und in Solidarität zu verbessern suchen, stehen heute auch ganz andere Vorstellungen von Kirche gegenüber.

Marcello Rossi zum Beispiel, ein Mittdreißiger im Priestergewand. In einer Fabrikshalle findet seine Popmesse statt, da reicht der Platz wenigstens halbwegs für die Fans. Rossi singt und swingt vor dem Altar. Die Stimmung ist echt, die Leute toben. Der Priester gibt seine simplen Songs auch im Fernsehen zum Besten. Junge Tänzerinnen, knapp gekleidet, begleiten seine Auftritte. Künstliche Begeisterung? Falsche Ekstase?

Die Rossi-Kirche, das räumen auch die Kritiker ein, entspricht zweifellos einem Bedürfnis. Aber eine Frage muss sich der singende Priester trotzdem gefallen lassen: Warum er seine Popularität nicht nützt, um Lieder gegen die Armut zu singen. Im frohen Rhythmus-Christentum des Marcello Rossi hat die triste Realität wenig verloren.

Kreuz zur Tarnung Auf der Suche nach der wirklichen Ekstase kommt man in Brasilien nicht an einem Candomble-Fest vorbei. Zu suggestiven Trommel-Rhythmen tanzen die Angehörigen dieser alten afrikanischen Religion so lange im Kreis, bis die Geister kommen und von ihnen Besitz ergreifen. Die Priesterin, Mae Sylvia de Oxala, versteht ihr Angebot vor allem als Heilung. Die Geister seien Kräfte der Natur, denen sich anzuvertrauen den Menschen gut tue. Mae Sylvia ist ein Nachkomme der schwarzen Sklaven, die die Portugiesen zu Hunderttausenden ins Land brachten, um den Zuckeranbau im gewünschten Ausmaß realisieren zu können. Bis heute sehen sich die Schwarzen in Brasilien unterschwelliger Diskriminierung gegenüber.

Auf die katholische Kirche ist Mae Sylvia deshalb nicht gut zu sprechen. Zwar hängt im Festsaal ein großes Kruzifix, aber das ist lediglich zur Tarnung gedacht. In Zeiten größerer Verfolgung wollte man mit dem Kreuz unangenehmen Fragen der katholischen Herrscher entkommen. Insgeheim hatte man ihm freilich einen Orixa, einen Geist, unterlegt. Warum sich die missionierenden Christen überlegen fühlten, versteht Mae Sylvia bis heute nicht. "Immerhin ist unsere Religion 15.000 Jahre alt", sagt sie, "und das Christentum erst 2000."

Brasilien in den Köpfen, Vielfalt der Bilder. Die einen leben in Favelas, die anderen in Häusern, die sie mit hohen Zäunen schützen müssen. Die einen besitzen Ländereien, die anderen besitzen nichts. Überschäumende Lebenslust macht den Karneval von Rio zum Weltereignis. Die Indios hingegen haben ihre Lebensgrundlage weitgehend verloren. Bis vor kurzem standen sie vor der Ausrottung.

Armut und Anmut Verständlich, dass viele Brasilianer in diesen Tagen keine Lust zum Feiern haben. Ihre ganz anderen Erfahrungen mit dem "entdeckten" Land führte beim Jubiläum sogar zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Entwaffnend die Offenheit des Präsidenten, Fernando Cardoso, der anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten von "stechenden sozialen Wunden" sprach, die ein Erbe der vergangenen 500 Jahre seien. Cardoso nannte die Vernichtung der Indianer, die Versklavung der Schwarzen und das Drama der landlosen Bauern. Der Kurienkardinal und vormalige Vorsitzende der brasilianischen Bischofskonferenz, Lucas Moreira Neves, schafft es hingegen, in einem Beitrag für die Katholische Presseagentur (vom 4. April) über Entdeckung und Evangelisierung des Landes die Sklaverei nicht mit einer Silbe zu erwähnen: Brasilien in den Köpfen.

500 Jahre nach dem Beginn der Eroberung und Missionierung steht das Land vor einem Berg von Problemen, die allesamt nicht leicht zu lösen sind und auch internationale Solidarität brauchen. In den Köpfen der Europäer wird Brasilien weiterhin ein faszinierendes Land sein. Ein Land, das seine Armut durch Anmut vergessen macht. Aber die Widersprüche werden so schnell nicht verschwinden, die einzelnen Bilder so schnell kein Mosaik ergeben. Und so lange sich die sozialen Konflikte nicht entspannen, werden auf dem Friedhof Sao Luis weiterhin Jugendliche begraben werden. Täglich ungefähr 20.

Der Autor ist Religionsjournalist beim ORF-Fernsehen

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