"Viele haben derzeit Angst in Ungarn“

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Die Philosophin Ágnes Heller sieht sich einer Hetzzkampagne regierungsnaher ungarischer Medien ausgesetzt. Ein Interview über die politische Lage Ungarns.

* Das Gespräch führte Karl Pfeifer

Seit dem 8. Januar führen die regierungsnahen ungarischen Medien eine Hetzkampagne gegen einige renommierte Philosophen. Darunter befinden sich Ágnes Heller, Mihály Vajda, Sándor Radnóti, György Gábori, Kornél Steiger und György Geréby. Mit antisemitischen Untertönen unterstellen ihnen die Medien, sich bereichert zu haben. Karl Pfeifer hat darüber mit Ágnes Heller in Budapest gesprochen.

Die Furche: In Ungarn werden Sie und einige ihrer Kollegen als kriminell denunziert und in Fidesz nahen Zeitungen werden Zweifel geäußert, ob Ungarn überhaupt Philosophen braucht.

Agnes Heller: Es gibt in jedem Beruf neidische und eifersüchtige Menschen, so ist das auch in der Philosophie. Es gibt Philosophen, die glauben, unterdrückt zu sein und einen Kampf gegen erfolgreichere Kollegen führen zu müssen. Diese Leute haben die politische Karte gespielt und uns beschuldigt, Verbrechen begangen zu haben, das hätte zu keinem Ergebnis geführt, wenn die politisch führende Schicht - die sowieso einen Angriff gegen kritische Intellektuelle starten wollte - dies nicht benützt hätte. Obwohl sie eine offensichtlich politische Kampagne gegen "liberale Philosophen“ führen, versuchen sie, diese als einen Kampf gegen die Kriminalität hinzustellen. Darauf weisen Schlagzeilen hin wie "Die Heller und ihre Bande haben eine halbe Milliarde verforscht“ (Magyar Nemzet 8.1.2011). Ich habe von diesem Geld keinen Cent genommen, aber ich werde wie eine Diebin, wie eine Betrügerin hingestellt, als jemand, die eine halbe Milliarde kassiert hat. Sie beschmutzen meinen Namen und viele Menschen glauben, was man ihnen vorsetzt, wer liberal ist und Linke verteidigt, der stiehlt, betrügt und lügt auch. Hätte ich im 16. Jahrhundert gelebt, dann hätte man mich der Hexerei beschuldigt und wahrscheinlich verbrannt.

Die Furche: Warum werden solche Vorwürfe von vielen Ungarn geglaubt?

Heller: Zum Teil, weil sie Angst haben. Und viele haben in Ungarn Angst. Sie fürchten, ihre Arbeit zu verlieren oder nicht befördert zu werden. Obwohl unsere Angelegenheit unangenehm ist, geht es um mehr. Im Grunde gibt es jetzt einen Frontalangriff gegen die führende ungarische Intelligenz. Man wechselt Theaterdirektoren, den Operndirektor, die Leiter von einigen akademischen Instituten, sogar der Direktor des Meteorologischen Instituts wurde entlassen und die Subvention des Festivalorchesters um die Hälfte gekürzt.

Die Furche: Wie schaut es bei den Medien aus?

Heller: Journalisten, Moderatoren und Redakteure werden ersetzt. Nehmen wir MTV 1, den staatlichen TV-Kanal, der offiziell unabhängig und neutral berichten sollte. Doch von früh bis spät kommen da Fidesz-Parolen, manche fast noch rechtsextremer als auf anderen Kanälen. Linke und Liberale haben kein Fernsehorgan. ATV, der einzige Fernsehsender, der objektiv und ausgewogen berichtet, gehört der christlichen Pfingstgemeinde.

Die Furche: Wird mit dem Schlagwort "liberale Philosophie“ ein Kulturkampf geführt?

Heller: Mit Ausnahme der politischen gibt es keine liberale, keine linke oder rechte Philosophie. Als Person bin ich politisch liberal aber unser Projekt sollte sich mit Nietzsche, Heidegger und Lukács befassen. Wer glaubt, diese drei Philosophen als liberal bezeichnen zu können, ist ahnungslos.

Die Furche: Es gibt in Ungarn anständige konservative Intellektuelle. Die haben es nicht nötig, an solchen Kampagnen teilzunehmen. Warum werden auch diese abgesetzt?

Heller: Man will an ihre Stelle Leute setzen, die ganz von der Regierung abhängen. Wenn es jemanden gibt, der selbstständig denkt, der einen Namen hat, der hängt nicht von der Regierung ab, der hat das Recht und die Möglichkeit, eine eigene Meinung zu artikulieren. Wenn die Regierung so jemanden ersetzt, dann kann sie die von ihr abhängigen Leute an der Leine halten. Genau das hat man während des Kommunismus unter Rákosi gemacht. Die haben Intellektuelle heraus geworfen und durch ihre Leute ersetzt. György Aczél, der für Kultur verantwortliche Funktionär war schon gescheiter, er hatte ein Gefühl für Qualität. Er hat Intellektuellen geschmeichelt, er hat viele gekauft. Nicht uns, denn wir waren ideologische Gegner. Aber wenn jemand Musiker, Dirigent oder Meteorologe …

Die Furche: Oder völkischer Schriftsteller war…

Heller: Ja auch István Csurka oder Gyula Illyés. Doch die jetzige Regierung hat keine Ahnung von Qualität und so schaut auch ihre Personalpolitik aus.

Die Furche: In der Bevölkerung scheint die Regierung Orbán aber populär zu sein.

Heller: Viele Ungarn sehen in ihm eine Vaterfigur, die schon weiß, was gut für uns ist. In den 20 Jahren nach der Wende haben die meisten die demokratischen Freiheiten nicht schätzen gelernt. Wir haben eine Mittelklasse aber leider fast keine Citoyens. Orbán glaubt allein zu wissen, was gut ist. Obwohl er kein Antisemit oder Rassist ist, transportieren Fidesz-nahe Medien antisemitische und rassistische Inhalte. Viele Politiker glauben, was im Inland gesagt wird, das bleibt im Inland. Wenn dann westliche Medien darüber berichten, versuchen sie solche Aussagen zu bagatellisieren und die Publikation im Ausland als Ergebnis einer linksliberalen Verschwörung hinzustellen, die von "Nestbeschmutzern“ im eigenen Land angezettelt wurde.

Die Furche: Wann haben Sie aufgehört, daran zu glauben, dass der Marxismus in Ungarn irgendetwas lösen kann?

Heller: Schon 1956 war ich vom Kommunismus in Ungarn enttäuscht. Allerdings dachte ich, dass ist nicht der wirkliche Marxismus und ich fing an den jungen Marx zu lesen und einen sehr utopischen Marxismus, eine Gesellschaft frei von Entfremdung anzustreben, so wie in den deutsch-französischen Jahrbüchern konzipiert ... Aber schon damals habe ich Marxens grundlegende Thesen nicht akzeptiert …

Die Furche: Welche?

Heller: Ich lehnte die führende Rolle des Proletariats ab und die Entwicklung der Produktivkräfte die Bewegkraft der Geschichte. Für mich war Marx das Versprechen auf eine Gesellschaft ohne Entfremdung. Ismus bedeutet, ein Paket zu kaufen und all das was drin steckt zu akzeptieren. Auch deswegen habe ich mich von allen Ismen so auch vom Marxismus losgesagt. Aber ich verehre Karl Marx, er ist einer der großen radikalen Denker des 19. Jahrhunderts und deswegen habe ich ihn genauso wie zwei andere große radikale Denker Kierkegaard und Nietzsche an der Universität gelehrt. Auch Siegmund Freud gehört dazu. Das waren die großen radikalen Denker und es ist wichtig, zu verstehen, was sie sagten.

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