Vom Glück, ein Leben zu retten

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Acht Mal schon ist Marcus Bachmann aufgebrochen, um irgendwo auf diesem Globus Menschen beizustehen. Was den Logistiker antreibt, sich für "Ärzte ohne Grenzen“ zu engagieren? Wut, Betroffenheit - und das Bewusstsein, dass seine Lebensführung wahrer Luxus ist.

Das Bild hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt: Dieses kleine, vielleicht zweijährige Mädchen, dieser winzige, ausgedörrte Körper inmitten eines Tollhauses. Daneben die überforderte Großmutter, die das völlig dehydrierte Kind ins überfüllte Cholera-Behandlungszentrum begleitet hat. Als Marcus Bachmann zufällig vorübergeht, um nachzusehen, was am dringendsten benötigt wird, bleibt sein Blick an dem Mädchen haften. Er fragt die alte Frau nach der Mutter, denn er weiß: Wer an einem Ort wie diesem keine nächsten Verwandten um sich hat, die sich für ihn einsetzen, der hat schon verloren. Nur "Care-Taker“ können schreien, wenn eine Infusion zu Ende geht; nur sie können ein Kind beständig drängen: Trink! Trink! Trink!

Mit einer Kollegin macht sich Bachmann also auf ins nahe Dorf, um die Mutter zu suchen. Eine heikle Aktion: Als Mann darf er das Haus der muslimischen Familie nicht betreten. Und die Mutter hat noch andere Kinder, um die sie sich kümmern muss. Doch am Ende willigt sie ein. Mit ihrer Hilfe beginnt das Mädchen noch am selben Abend zu trinken, drei Tage später kann sie nach Hause gehen.

"Dieses Mädchen war so eine Ankerperson, die mich sehr berührt hat“, erinnert sich Marcus Bachmann im weitläufigen Büro der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Normalerweise bemüht er sich darum, seine Arbeit möglichst "cool-analytisch“ zu erledigen. Doch manchmal erlaubt auch er sich ein bisschen Betroffenheit. Sie ist es schließlich, die ihn für seine Arbeit motiviert.

Zusage nach einer Stunde

Seit fünf Jahren ist der drahtige 44-Jährige für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Bereits acht Mal ist er binnen kürzester Zeit aufgebrochen, um irgendwo auf diesem Globus Leben zu retten: in Kirgisistan, im Kongo, in Bangladesch, Simbabwe, Haiti und zuletzt eben in Nigeria.

Es gehe wieder um die Leitung eines Cholera-Projekts, erzählt ihm im vergangenen Oktober seine Amsterdamer Kollegin. Nähere Details hat sie nicht parat, als sie um 16 Uhr seine Nummer wählt. Eine Stunde später sagt ihr Bachmann zu, fünf Tage später sitzt er samt Visum im Flugzeug, wird nach seiner Landung von einem Country-Management-Team von Ärzte ohne Grenzen gebrieft und fährt dann mit einer Kollegin in den betroffenen Bundesstaat Zamfara.

Die Herausforderung ist riesig: Tausende Erkrankte auf einem Gebiet so groß wie die Niederlande müssen betreut werden - eine logistische Herkulesaufgabe für die acht internationalen und 70 nationalen Mitarbeiter der Hilfsorganisation. Dazu kommen zahlreiche Zweit- und Dritterkrankungen: HIV/Aids und Tuberkulose, Malaria und Masern, Unterernährung sowieso. Bachmann eruiert die vorhandenen Medikamente, kontaktiert die lokalen Gesundheitsbehörden, rekrutiert Mitarbeiter, Chauffeure, Übersetzer und kontrolliert die Abläufe in den Behandlungszentren. Als die Epidemie kurz vor Weihnachten überstanden scheint, tritt er den Rückflug an: 70 Prozent der 18.000 Erkrankten hat sein Team betreuen können, "eine unglaubliche Quote“, freut sich Marcus Bachmann. Doch 450 Patienten haben die Durchfallerkrankung nicht überlebt. "Es macht mich wütend, dass Menschen im 21. Jahrhundert an der Cholera sterben, die keine Rolle mehr spielen dürfte“, sagt er im Wiener Büro. "Das ist mit der Würde des Menschen nicht vereinbar.“ Diese Betroffenheit, diese Wut sei die "absolute Basis“ seiner Motivation.

Bachmann ist 39 Jahre alt, erfolgreicher Qualitäts- und Prozessmanager in der pharmazeutischen Industrie, Vater eines 19-jährigen Sohnes und geschieden, als er eine neue Herausforderung sucht. "Ich habe sehr analytisch gearbeitet, aber nie die Patienten gesehen, für die ich das mache“, erinnert er sich. Auf der Suche nach einer Hilfsorganisation, bei der er sich einbringen kann, überzeugt ihn Ärzte ohne Grenzen am meisten. Nach einer Vorbereitungswoche führt ihn schon der erste Einsatz an einen besonders brisanten Ort: zu Tuberkulosekranken in die Gefängnisse Kirgisistans. "Da war ich sehr gefordert“, erinnert sich der Logistiker. Mit einem Laptop und "viel Naivität“ im Gepäck landet er gemeinsam mit seinem Projektleiter in einem medizinischen und menschenrechtlichen Minenfeld. Erst nach zehn Monaten kehrt er zurück. "Diese Naivität im besten Sinn hat man leider nur beim ersten Mal“, sagt er heute. Umso wichtiger sei es, bewährte Kräfte und "first missioners“ zusammenzuführen.

Mittlerweile ist Marcus Bachmann der alte Hase im Team. Er verbringt neun Monate im Kongo, wo er auf einem Fluss in einen Sturm gerät und glaubt, es sei aus mit ihm; er fliegt nach Bangladesch und drei Mal nach Simbabwe, wo er als Projektleiter gegen die Cholera kämpft; und er bleibt drei Monate in Haiti, wo ihn das unglaubliche Gewaltpotenzial einer sozial devastierten Gesellschaft mindestens so sehr erschüttert wie die vielen Amputationen.

Leben im "angewandten Prekariat“

Es ist auch in Haiti, wo er erstmals wirklich Angst bekommt. Und trotzdem steigt er wieder gesund aus dem Flugzeug, nimmt sich wie nach jedem Einsatz eine Auszeit, studiert das pralle Notizbuch, das ihm vor Ort als Tagebuch und zum Dokumentieren dient - und kompensiert das viele Leid mit Kunst, Kultur und Ausdauersport.

Natürlich: Er könnte es bequemer haben. Er könnte mehr Zeit mit seinem Sohn verbringen, für den er einen besonders riskanten Einsatz in Somalia abgelehnt hat; er könnte besser verdienen als im "angewandten Prekariat“, bei dem er während seiner Einsätze ein bescheidenes Gehalt bezieht und sich ansonsten mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten muss; und er könnte sich die quälenden Entscheidungen ersparen, wem er bei begrenzten Ressourcen helfen kann - und wem leider nicht.

Wer weiß, wie viele Sterbenskranke er in diesem Tollhaus in Nigeria noch hätte retten können? Doch zumindest das kleine Mädchen lebt. "Dass ich meine Zeit und Energie für so etwas geben kann“, sagt Marcus Bachmann, "das ist für mich ein wahrer Luxus.“

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