Vom Lehrsatz der Ungewißheit

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Sind Denken und Glauben ein Gegensatz? Eine Veranstaltungsreihe in Salzburg versucht eine diesbezügliche (Jahrhundert-)Bilanz.

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Sind Denken und Glauben ein Gegensatz? Eine Veranstaltungsreihe in Salzburg versucht eine diesbezügliche (Jahrhundert-)Bilanz.

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Den Beginn des 20. Jahrhunderts prägte eine Generation, die von den Erfolgen von Naturwissenschaften und Technik ebenso fasziniert waren wie von Nietzsche. Robert Musil, in dessen Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" die parallel verlaufenden Vorbereitungen für die großen Regierungsjubiläen des österreichischen und des deutschen Kaisers als "Parallelaktion" ironisiert werden, hat diese Spannung in zahlreichen Gegensatzpaaren eindringlich benannt, wenn er von "Eindeutigkeit und Gleichnis", "Exaktheit und Utopie", von einem "Generalsekretariat für Genauigkeit und Seele" oder von "tagheller Mystik" spricht. Musil wollte diese Antithesen nicht wie Hegel in einer Synthese aufheben, aber auch nicht vermischen oder auseinanderreißen; in seinem Denken bilden sie die zwei Brennpunkte einer Ellipse.

Bei Musil hat sich die Salzburger Veranstaltungsreihe, die vom Katholischen Akademikerverband und dem Bildungshaus St. Virgil getragen wird, den Titel ausgeborgt, wenn sie fragt, ob Denken und Glauben, Rationalität und Mystik, Wissenschaften und weltanschauliche Positionen oder religiöse Einstellungen im 20. Jahrhundert "Parallelaktionen" darstellen oder ob es - über individuell gelebte und bezeugte Synthesen hinaus - tragfähige Verbindungen gibt.

Dabei geht es nicht um ein Spezialproblem religiöser Menschen, die sich fragen, wie sie auf der Höhe der Zeit und gleichzeitig noch religiös sein können. Längst hat sich herumgesprochen, daß der Zusammenhang von "Erkenntnis und Interesse" (so Jürgen Habermas) nicht nur in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu berücksichtigen ist; für die Quantenphysik hat Werner Heisenberg die "Beobachterrelevanz" festgestellt: Messungen, die von Vorannahmen und vom verwendeten Instrumentar abhängig sind.

"Irgendwo muß ich mit einer Annahme oder Entscheidung anfangen", hat Ludwig Wittgenstein in seiner Schrift "Über Gewißheit" formuliert. Nicht nur die Religion, auch das rationale Denken steht heute auf dem Prüfstand. Denn gerade das 20. Jahrhundert hat gezeigt, daß Rationalität kein Garant gegen menschenverachtende Barbarei ist, sondern genauso gut in ihren Diensten stehen kann. Wer heute auf das "unabgeschlossene Projekt der Moderne" (auch das eine Habermas-Formulierung) setzt, kann die Anfragen "postmoderner" Denker an das monolithische und unsinnliche europäische Konzept von Rationalität nicht mehr ausblenden.

Am Anfang dieser Vermessung der geistigen und religiösen Landschaft des 20. Jahrhunderts stand ein Symposium im Bildungshaus St. Virgil, bei dem der Physiker Herbert Pietschmann von drei Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis ausging: Zu den immer weiter hinausschiebbaren technologischen und der prinzipiell unübersteigbaren methodologischen Grenze kommt für ihn noch die ontologische Grenze naturwissenschaftlicher Erkenntnis: Er meint damit, daß die Naturwissenschaften, für deren Experimente Reproduzierbarkeit, Quantifikationen und Analyse entscheidend sind, das Einmalige und Nichtreproduzierbare ausgrenzen sowie Synthesen und Vernetzungen vernachlässigen.

Erfahrungen der Einmaligkeit und Einheit, so der Theologe Josef Weismayer auf dem Symposium, sind Wesenselemente christlicher Mystik. "Mystik" ist freilich zu einem kuriosen Modewort verkommen, das ungefähr für alles steht, was vage, irrational, und schwärmerisch ist. Weismeyer skizzierte eine Denk- und Lebensform, die Denken und Glauben in spannungsreicher Einheit verbindet. Der Kunsttheoretiker Herbert Muck sprach über Kunst und Mystik und griff gegen eine "Zeit der manipulativen Ästhetisierung des Religiösen und Kultischen bis zur Verkultung des Ästhetischen" auf die Erfahrungen der Mystiker vom völligen Ungenügen des Bildes zurück.

Unerklärbare Welt In konzentriertem Kommentar erschloß er die Steine des Bildhauers Karl Prantl, der konventionelle Symbolik entschieden vermeidet. Mucks Bild des Mineralogen und des Künstlers, die beide denselben Stein betrachten und sich dabei nicht in der Terminologie, aber doch in der Sache einigen, war augenfällige Illustration des Themas. Er die begründete Schwierigkeit heutiger Philosophie, auf die Grundfragen des Menschen eine Antwort geben zu können, und das Bedürfnis vieler Menschen nach einem Bild vom Ganzen der Welt, einer Weltanschauung, sprach der Bonner Philosoph Heinz Robert Schlette. Er ging vom "Lehrsatz der Ungewißheit" aus und konstatierte: "Auch der religiöse oder selbst der christliche Blick sieht von der Welt nicht mehr als das, das sich zeigt und was ist, also das Chaos, die Widersprüchlichkeit aus Positivem und Negativem, das Durcheinander von Gutem und Bösem, Schönem und Häßlichem, und jedenfalls nicht das, was er erhofft oder worauf er vertrauen mag."

Eine rationale Erklärung der Welt ist für Schlette nicht mehr möglich, wohl aber eine Vision der Welt, die aber wiederum nicht ohne den "Lehrsatz der Ungewißheit" zu haben ist - das gilt für den christlichen Glauben wie für jede andere Religion. Auf dieser unsicheren Basis hat das Christentum aber "die Chance, als eine menschliche Option neben anderen zu überdauern, ohne daß von außen über Wahrheit oder Unwahrheit des christlichen Glaubens geurteilt werden kann."

Woher man unter diesen Auspizien Grundlagen des Handelns findet, war die Frage an Erhard Busek. "Wissen, was zu tun ist. Die intellektuellen und spirituellen Quellen praktischer Politik", so sein Thema, das er in Momentaufnahmen der Chancen und Gefahren am Ende des 20. Jahrhunderts behandelte, aus denen reiche praktische Erfahrung sprach. Klar wurde dabei auch die paradoxe Situation, daß der Mensch oft handeln muß, bevor er alle nötigen Antworten hat.

Die Unbeantwortbarkeit entscheidender Grundfragen ist aber nicht nur eine Verlustanzeige, sondern ermöglicht auch die Würde des Menschen und seiner Entscheidungen. "Unsicherheit und Geheimnis retten uns", schrieb Miguel de Unamuno, ein Denker und Schriftsteller vom Anfang des Jahrhunderts, auf den Schlette verwies, um zu prüfen, ob wir über seine Einsichten hinausgekommen sind. "Unterscheide, ohne zu trennen" - diese Aufforderung des Konzils von Toledo bezüglich der Trinität war Pietschmanns Anweisung zum Umgang mit den verschiedenen Sichtweisen der Realität.

Denken und Glauben, intellektuelle Reflexion und religiöse Vision können, wenn man über die eigene Glaubensgemeinschaft hinaus kommunikationsfähig bleiben will, nicht einfach vermischt werden. Wenn sie als "Parallelaktionen" unverbunden nebeneinander verlaufen, wird der Mensch bestenfalls ein "frommer Positivist", der seine Erfahrungen fragmentiert.

Das Symposium war der Auftakt zu Einzelveranstaltungen, die sich mit repräsentativen Denkerinnen und Denkern auseinandersetzen. Den Anfang machen Simone Weil und Edith Stein, zwei Frauen, die Theorie- und Spiritualitätsgeschichte schrieben und durch ihr Lebenszeugnis weiterwirken. Der Titel stammt von Simone Weil, die im zweiten Band ihrer Cahiers schrieb: "Der Glaube ist die Erfahrung, daß der Verstand durch die Liebe erleuchtet wird." Im Herbst 2000 steht eine Auseinandersetzung mit Martin Heidegger auf dem Programm.

Der Autor ist Generalsekretär des Katholischen Akademikerverbandes Österreichs.

Tip "Parallelaktionen" - Denken und Glauben im 20. Jahrhundert "... daß der Verstand durch die Liebe erleuchtet wird" Spiritualität und Philosophievon Simone Weil und Edith Stein im Vergleich Referentinnen: Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovits, Dresden,Dr. Maja Wicki-Vogt, Zürich Freitag, 3. März 2000, 19.30 bis Samstag 4. März 2000, 17.00 Uhr Veranstaltungsort, Anmeldung, Informationen:Bildungshaus St. Virgil,5026 Salzburg, Ernst-Grein-Str. 14, Tel.: 0662/65901, Fax: 65901-509 Email: office@virgil.salzburg.at Net: http://www.salzburg.com/virgil

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