Moral - auch in ihrer christlichen Orientierung - ist immer eine lebendige Größe und somit Veränderungen unterworfen. Die teils radikale Veränderung moralischer Standards in der Geschichte lässt sich deutlich zeigen im Vergleich des früheren kirchlichen Zinsverbotes mit der heutigen Zinspraxis oder in der seit kurzem ablehnenden Haltung der katholischen Kirche zur Todesstrafe.
Doch die Veränderung moralischer Standards ist eine Sache, ihre gezielte Deregulierung eine andere. Europäische Intellektuelle führen Klage über das zu engmaschige moralische Reglement, das zukünftige Entwicklungen behindere. Von "Humanitätsduselei" ist oft die Rede, die man sich auf Dauer nicht leisten könne. Schon lange wird mit der polemischen Etikettierung "political correctness" versucht, Bemühungen um Humanisierung, die sicher auch absurde Blüten treiben können, der Lächerlichkeit preiszugeben, um die Gesellschaft von moralischen Ansprüchen zu entlasten.
Auffallend ist, dass im Einklang mit der Deregulierung der Märkte die Deregulierung moralischer Standards betrieben wird. Das freie Spiel der Kräfte soll nicht nur den besten wirtschaftlichen Nutzen sondern auch den besten moralischen Nutzen bringen. Oder soll eine Deregulierung der Moral die Optimierung des Nutzens fördern? Doch Nutzen für wen?
Am Ende stünde eine Moral, die es erlaubt, Menschen und den Umgang mit ihnen nach Kategorien der Nützlichkeit auf- und abzustufen. Und auch die technische Machbarkeit schafft ständig Tatsachen. Diverse Ethik-Kommissionen werden das Ungeheuerliche im Nachhinein nicht bändigen, weil sich zwischenzeitlich Einstellungen verändert haben. Eine Moral aber, die für die Schwächeren, die weniger Nützlichen, eine Bedrohung ist, bedroht die ganze Menschheit, denn die Würde des Menschen, der nach biblischer Tradition Abbild Gottes ist, ist unteilbar.
Martin Jäggle ist Professor an der Religions-pädagogischen Akademie Wien und Autor von Religionsbüchern. Zusätzlich engagiert er sich in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit.