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Von der Kirchlichkeit zur Religiosität

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INTERNATIONALES JAHRBUCH FtiR RELIGIONSSOZIOLOGIE. International Yearbook for the Sociology of Religion, Bd. 1. Religiöser Pluralismus und Gesellschaftsstruktur. Volume 1 Religious Pluralism and Social Structure. Westdeutscher Verlar, Köln und Opladen 1965, 254 S, DM 33.

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INTERNATIONALES JAHRBUCH FtiR RELIGIONSSOZIOLOGIE. International Yearbook for the Sociology of Religion, Bd. 1. Religiöser Pluralismus und Gesellschaftsstruktur. Volume 1 Religious Pluralism and Social Structure. Westdeutscher Verlar, Köln und Opladen 1965, 254 S, DM 33.

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Das internationale Jahrbuch für Religionssoziologie, dessen erster Band „Religiöser Pluralismus und Gesellschaftsstruktur“ uns vorliegt, verspricht ein Sprachrohr der Religionssoziologen zu werden, die einen engen Kontakt von religionssoziologischer Forschung und allgemeiner soziologischer Theorie wünschen und Äußerungen des Religiösen nicht nur innerhalb von Kirchen und Glaubensgemeinschaften für möglich halten.

Neun Soziologen stellen ihre besonderen theoretischen Ansätze, religiösen Pluralismus zu erklären, oder ihre Untersuchungen in bestimmten Ländern dar. Die Zweisprachigkeit des Jahrbuches (deutsche und englische Originalbeiträge mit Zusammenfassungen in den anderen Sprachen) wird mithelfen, die internationale Diskussion in der Religionssoziologie zu forcieren.

Im Artikel von Paul Honigsheim werden religionssoziologische Grundbegriffe, wie Askese, Magie, Mystik und Sekte behandelt, die Verknüpfung von Mystik und rationaler Erkenntnis besprochen und wird nach den Beziehungen des Asketen zur Umwelt gefragt.

Diese Beziehung findet dann ihre dialektische Auflösung im „innerweltlichen Asketen“ (Max Weber), „der die Welt, in die Gott ihn gesetzt hat, nicht weltflüchtig verlassen darf“ (Seite 22), in der Welt aber jeder Versuchung entsagen muß, was ihm am besten durch dauerndes Arbeiten gelingt.

Gerhard Lenski, an dessen Ausführungen beim 5. Weltkongreß für Soziologie in Washington (September 1962) sich die ersten Gespräche knüpften, die zu diesem Jahrbuch führten, versucht Grundsätze einer theoretischen Behandlung des religiösen Pluralismus zu erarbeiten. Er will vor allem behandelt wissen, was den religiösen Pluralismus verursacht, welche individuellen und sozialen Reaktionen er hervorruft und wie er sich auf andere gesellschaftliche Institutionen auswirkt.

Dabei wird dem Zusammenwirken von politischen und religiösen Institutionen besondere Bedeutung geschenkt. Es wird betont, daß sich der religiöse Pluralismus nur auf solche Situationen bezieht, in denen organisierte religiöse Gruppen mit unvereinbaren Glaubenshaltungen gezwungen sind, im Rahmen der gleichen Gemeinschaft oder der gleichen Gesellschaft zusammenzuleben. — Leider wird dieser entscheidende Satz in der deutschen Zusammenfassung sinnstörend übersetzt.

Lenski stellt auch zwei Begriffe von „Religion“ vor, einen, bei dem „Religion“ beschränkt wird auf Glaubensüberzeugungen, in bezug auf Gott, das Übernatürliche und die verschiedenen Praktiken und Institutionen, die mit diesen Überzeugungen verbunden sind; und einen ändern, bei dem dieser Terminus identifiziert wird mit den letzten Bindungen der Menschen oder ihrer Überzeugungen in bezug auf die Natur des oder der Mächtigen, welche letztlich die Natur und das Schicksal des Menschen gestalten (Seite 26).

Mit dieser Weitung der Sicht des Religiösen in der zweiten Definition ist Lenski Thomas Luckmann1 nahe gekommen, der Religion „als Bindung und Transzendenz, das schlechthin Sinngebende des menschlich-gesellschaftlichen Daseins“ bezeichnet.

Freilich sprechen die Menschen auf die Probleme, die der religiöse Pluralismus stellt, sehr verschieden an. Prof. Matthes zeigt dies an den Konfessionalisierungstendenzen in der Bundesrepublik Deutschland. Poeisz stellt am Beispiel der Niederlande Gruppenisolierung, Kirchlichkeit und Religiosität gegenüber. Willems zeigt für Brasilien und Chile, welchen Einfluß die Entstehung neuer religiöser Gemeinschaften auf das tägliche Leben in den Gemeinden und auf das politische Leben hat. Gulick beschreibt uns den politisch konfessionalisier- ten Libanon.

Kuper behandelt am Beispiel Südafrikas den direkten, von außen aufgezwungenen sozialen Wandel. Kann man aber soweit gehen, „die Beziehungen von Religion und Verstädterung aus dem weiteren Zusammenhang des Kontaktes von Rasse und Kultur aussondem“ (Seite 230) zu wollen?

David O. Morberg schildert den religiösen Pluralismus in den USA,

1 Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Verlag Rombach, Freiburg 1963, Seite 36.

dessen Gefährdung in der Verschmelzungstendenz zu einer Einheitsdenomination einerseits und der „Versäulung“ der Lebensbereiche nach wenigen, dann starren, religiösen Gruppen (etwa Protestanten, Katholiken, Juden) anderseits besteht.

Dies führt uns zum Artikel von Peter L. Berger „Ein Marktmodell zur Analyse ökumenischer Prozesse“, der das gleichzeitige Auftreten eines neuen ökumenischen Geistes und des Denominationalismus, der durch ein „erneutes Betonen des historischen Erbes und der eigentümlichen theologischen Position der jeweiligen Denomination“ (S. 235) gekennzeichnet ist, vor allem im amerikanischen Protestantismus beschreibt.

Er schränkt sein Modell auf die „Main-Line“-Mittelstandsdenomina- tionen ein und fragt sich nach den weltlichen Ursachen ihrer Zusammenarbeit.

Dieses Modell zeigt den Einfluß der Oikonomia auf die Oikoumene und ist in der Lage, bisher wenig beachtete Zusammenhänge deutlich zu machen.

Berger hält sein Modell auch im außeramerikanischen Gesellschaften für anwendbar. Allerdings geht er meines Erachtens zu weit, wenn er den Einfluß der Religion als Schöpferin legitimierender Symbole ausschließlich auf einige wenige Lebensbereiche (etwa für die Privatsphäre) beschränkt. Hier kehren wir besser zur weiteren Konzeption von Lenski zurück, der meint (Seite 32), daß die Reaktionen auf die Herausbildung des religiösen Pluralismus den Einfluß eines oder mehrerer der folgenden Faktoren widerspiegeln:

1. die eigene besondere Stellung in der Gesellschaft,

2. die Stellung der religiösen Gruppe, zu der man gehört, in der Gesellschaft,

3. die Vorgeschichte der interreligiösen Beziehungen in der Gesellschaft,

4. der Inhalt der Religionen selbst.

Die religionssoziologische Forschung wie auch an religiösen Fragen Interessierte — und wer könnte dies nicht sein bei dieser weiten Konzeption von Religion — werden aus diesem ersten Band des Jahrbuchs für Religionssoziologie — der zweite Band „Theoretische Probleme der Religionssoziologie“ wird demnächst erscheinen —, Anregung zur Diskussion und zu neuen Fragestellungen erhalten.

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