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Von der Verwaltung der Gerechtigkeit

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Verwaltung der Gerechtigkeit — mit diesen altertümlich klingenden Worten bezeichnet das österreichische Strafgesetzbuch die Tätigkeit der Justizbehörden, vornehmlich der Gerichte. Sollte es nächstens in Österreich wirklich zu einer Neukodifikation des Strafrechtes kommen, dann wird wohl auch diese Formulierung als antiquiert fallen gelassen werden. Nichts verdeutlicht vielleicht schärfer die Verhältnisse unserer Zeit als die Vorstellung, welche Wirkung ein Gesetzgeber heute in der Meinung des Volkes erzielen würde, wollte er behördliche Tätigkeit von Amts wegen und von vornherein als „Verwaltung der Gerechtigkeit“ definieren ...

Gerade dies legt aber nahe, einmal weitab von den Sensationen und Konflikten des Alltags den Gedanken nachzuspüren, auf denen das Konzept einer „Verwaltung der Gerechtigkeit“ beruht. Was das alte österreichische Gesetz damit von der Tätigkeit der Justizbehörden meint, das gilt — wie sieh gleich zeigt — gewiß ebenso von der Tätigkeit aller Behörden, aller Funktionäre, ja darüber hinaus für jeden, der im öffentlichen Leben steht.

Der Richter, der Staatsanwalt, der Beamte überhaupt, jeder, der im öffentlichen Leben steht, soll also „Verwalter“ sein. Wer verwaltet, ist für sein Tun und Lassen verantwortlich; wer sich bewußt ist, zu „verwalten“, fühlt sich dafür auch verantwortlich. Wem? Nun, dem, dessen Gut uns anvertraut ist. Dieses Gut aber ist die „Gerechtigkeit“. Wer ist ihr Herr?

Für einen Christen — welchen Bekenntnisses immer —, ja für jeden religiös irgendwie Gebundenen beantworten sich diese Fragen von selbst. Herr der Gerechtigkeit ist Gott, ihm sind wir alle für unser Tun und Lassen verantwortlich. Aber auch wer religiös nicht gebunden ist, kennt nur zu gut jene heimliche und allzuoft recht unheimliche Stimme, die ihn erinnert, daß es Richter seines Wirkens gibt, die nicht leicht zu täuschen sind, vor denen er zu bestehen hat, die der eine das „Gewissen“, der andere die „Zeit“, der dritte „Geschichte“ nennen mag. Das Gefühl eigener Verantwortlichkeit vermag auf Dauer aber niemand zu unterdrücken. Sich persönlich verantwortlich fühlen für alles, was man tut oder unterläßt, heißt aber — kurz und bündig — wohl nichts anderes als: ein Mensch sein.

Und was ist Gerechtigkeit? Gerechtigkeit, wie sie Gott will, wie sie das Gewissen verlangt, wie sie vor Zeit und Geschichte bestehen kann? Auch diese Frage ist für den Christen, für den religiös Gebundenen nicht schwer zu beantworten; er braucht notfalls ja auch nur einen Blick in die heiligen Schriften seiner Religion zu werfen. Aber auch die Lehren der Philosophie, der Rat der Geschichte, die Stimme des Gewissens und des rein natürlichen, schlicht menschlichen Empfindens gehen dem Wißbegierigen, dem Hörwilligen Antwort. Und wüßte er nicht mehr als die alte römische Definition des „Suum cuique“ — wie könnte er noch weit in die Irre gehen? Jedem das Seine geben und das Seine lassen — seine Freiheit und sein Leben, seine Ehre, seine Uberzeugung, seine Menschenwürde, sein Heim und sein'e Familie, seine Arbeit und die Früchte seiner Arbeit — wäre das überall Wirklichkeit, wer wagte noch, über Ungerechtigkeit zu klagen?

Die Grundsätze, nach denen wir zu verwalten haben, zeigt uns „das Recht' an. Damit ist freilich nicht so sehr an das Gebilde aus Menschenhand und Menschenverstand gedacht, das man so gerne als „Rechtsordnung“ bezeichnet und das m einer Flut von Verfassungen, Gesetzen, Kundmachungen und Verordnungen auf die Welt niederprasselt, alle paar hundert Kilometer anders heißt und anderen Inhalt hat und so rasch geändert wird, als es gemacht wird. Gemeint sind vielmehr jene ewigen Normen, die der eine Natur-recht, der andere die Gebote Gottes nennen mag, die aber immer gleich und immer gültig bleiben.

Die Gesetze der Staaten müssen, wenn sie Wert und Bestand und zugleich Rechtfertigung haben sollen, Realisierung, Entsprechung jener ewigen Normen darstellen; jedes Gesetz wird als Menschenwerk unvollkommen sein müssen; aber es sollte wenigstens mit dem Blick auf die Normen des ewigen, wahren Rechtes, mit der heißen Absicht, ihm zu entsprechen und es zu verwirklichen, erlassen werden.

Wer mit „Recht“ und „Gesetz“ sein Leben lang zu tun hat, kann sich der Erkenntnis dessen nicht verschließen, was der Laie oft vielleicht nur dunkel, meist aber doch deutlich genug fühlt: es ist geradezu ein Charakteristikum unserer Zeit geworden, daß das „Gesetz“ nur allzuoft nicht mehr dem „Recht“ entspricht, daß Gesetze aus Utilitäts- und Opportunitätsgründen erlassen werden, ja daß sie zuweilen sogar krassestes Unrecht zum Inhalt haben. Die Zeit, in der sich ein Richter, Staatsanwalt, Beamter damit beruhigen konnte, beruhigen durfte, die staatlichen Gesetze, die Weisungen seiner Vorgesetzten befolgt zu haben, ist für große Teile der Erde vorüber. Wenn wir Rechenschaft von unserer Tätigkeit als „Verwalter der Gerechtigkeit“ ablegen müssen vor Gott, vor unserem Gewissen, entschuldigt Berufung auf Gesetz ebensowenig wie Berufung auf Befehl.

Dies zu beherzigen ist aber nicht nur Sache derer, die als Richter, Staatsanwälte, Beamte aller Art zur obrigkeitlichen

Tätigkeit berufen sind. Noch mehr beherzigen müßten es alle jene, die dazu berufen sind, die „Gesetze“ zu erlassen. Sie sind vielleicht noch mehr für die „Verwaltung der Gerechtigkeit“ verantwortlich, daß kein Widerspruch zwischen „Recht“ und „Gesetz“ entsteht, daß entstandene Diskrepanzen beseitigt werden. Auch sie müssen sich persönlich für ihr Tun und Lassen verantwortlich fühlen. Vor dem Gericht Gottes, dem Gericht des Gewissens und dem Urteil der Geschichte entschuldigt auch Staatsraison, Parteiinteresse und Klubzwang nicht.

Was wir im öffentlichen Le-ben brauchen, sind Männer und Frauen, die sich für ihr

Wirken immer und überall persönlich verantwortlich fühlen, sind wahre Menschen, die den Mut zur Verantwortung haben. Es ist dies in der ganzen Welt ein dringendes, brennendes Problem geworden. Wir in Österreich sollten aber nicht lange schauen, was anderwärts geschieht; wir sollten selbst einmal anfangen, uns mehr als „Verwalter der Gerechtigkeit“ zu fühlen, und uns an unsere persönliche Verantwortlichkeit erinnern. Vielleicht hätten wir es sogar nötiger als andere.

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