Wahrheit und Frieden in der Sicht der Juden

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Wahrheit vs. Lüge

Im Judentum eine auch von den Rabbinern lang diskutierte Auseinandersetzung.

Das Judentum ist eindeutig in seiner Bewertung der Lüge als dem großen Weltenzerstörer und damit als der Kraft, die dem Schöpfungswillen Gottes die Stirn bieten will. Der Midrasch erzählt: Die Falschheit kam zu Noah und bat ihn, ihr einen Platz in der Arche zu sichern. Noah antwortete: ich nehme nur Paare auf. Da suchte die Falschheit einen Partner, der mit ihr reisen wollte: und siehe, sie fand schließlich die Zerstörung. Nach einigen tausend Jahren des Lebens in Gemeinsamkeit schlug die Falschheit vor, ihren Güterzugewinn zu ermessen. Gewinn?, fragte die Zerstörung. Alles, was ich jemals anfasste, ist nicht mehr. Gemeinsam haben wir nichts geschaffen.

"Lügen ist eine Kunst" hört man immer wieder, und die Fähigkeit zur Illusion und dichterischen Freiheit gehört zur Möglichkeit einer kunstfertigen Gesprächskultur. Die Weisen sagen: "Wahrheit ist das Siegel des Heiligen, gepriesen sei er"(bT Schabbat 55a). Wenn Wahrheitsliebe die größte Form der Gottesliebe ist, dann müssen wir aus jüdischer Sicht genau über das Verhältnis von Lüge und Wahrheit nachdenken und über die Rahmenbedingungen des menschlichen Lebens, wie sie das Judentum lehrt. Unser Auftrag lautet, den Willen Gottes in allen Aspekten des menschlichen Lebens zu erfüllen, vor allem das Gebot "Von dem Wort der Lüge halte dich fern"(Exodus 23,7). Wenn wir lernen, nicht mehr zu lügen, sondern wahrhaftig zu sein, dann sind alle Dinge möglich, sogar die letzte Überwindung des Risikos, das Gott in Kauf genommen hatte, als er die Menschen auf diesem Planeten erschuf. Wer lügt, untergräbt das Fundament der Welt, wer es aber mit der Wahrheit genau nimmt, trägt zu ihrer Erhaltung bei. Was aber heißt: "es mit der Wahrheit genau nehmen"? Bedeutet es, dass jede Unwahrheit strikt verboten ist? Hier fängt es an, interessant zu werden. Denn erst wenn wir die Ausnahmen kennen, erschließt sich uns die Problematik von Lüge und Wahrheit im Judentum vollends.

"Von dem Wort der Lüge halte dich fern"

Rabbi Saadia Gaon sah in der Wahrhaftigkeit eine der drei Quellen der Vernunftgesetze der Tora: Die Praxis von Gerechtigkeit, Wahrheit, Fairness und Rechtschaffenheit gehören dazu. Die göttliche Weisheit hat es zu einer ihrer Grundsätze gemacht, dass wir Menschen die Wahrheit sprechen und uns der Lüge enthalten. Und doch gibt es eine Anzahl von Rechtsquellen, die für die praktische Auslegung des Lügenverbotes bedeutsam sind. Im Babylonischen Talmud, Traktat Ketubbot 16b-17a, geht es bei einem berühmten Streit zwischen den Schulen des Schammai und des Hillel um die öffentliche Würdigung der Braut: "Die Rabbanan lehrten: Wie erfolgt der Tanz vor der Braut? Die Schule Schammais sagt, je nach der Beschaffenheit der Braut. Die Schule Hillels sagt, man spreche:'Schöne Braut und liebreiche!' Die Schule Schammais sprach zur Schule Hillels: Wie sollte man, wenn sie lahm oder blind ist, über sie sagen: 'Schöne Braut und liebreiche!', die Tora sagt ja: von einer Lüge halte dich fern!? Die Schule Hillels erwiderte der Schule Schammais: Hat man, nach eurer Ansicht, wenn jemand einen schlechten Kauf auf dem Markte gemacht hat, die Ware in seinen Augen zu loben oder herabzusetzen? Doch wohl zu loben. Hierauf bezugnehmend sagten die Weisen: Stets passe man seine Sinnesart der seiner Mitmenschen an".

Es ist eigenartig, wie Hillel hier den Hinweis Schammais auf die biblische Weisung "Von dem Wort der Lüge halte dich fern" unter Bezug auf die gesellschaftliche Etikette abfertigt. Was veranlasste Hillel, hier vom Diktat der absoluten Wahrheitsliebe abzugehen? Klar ist, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt und der Bräutigam sicherlich am Tage der Hochzeit seine Braut als reizend und schön betrachtet, physisch oder in anderer Hinsicht. Nach Hillel handelt es sich bei der Wendung "Wunderschöne und liebreizende Braut!" um eine standardisierte Floskel in der Trauzeremonie, die metaphorisch gemeint ist. Ein konkreter Bezug wird nur dann hergestellt, wenn die Aussage auch tatsächlich zutrifft. - Es gibt also eine Schwingungsbreite der Definition von Wahrheit und Lüge im Judentum, die jenseits des absoluten Prinzips wenige Abweichungen zulässt, wenn die Gründe als gültig erachtet werden. Absolute Wahrhaftigkeit ist wesentlich in allen gerichtlichen Verfahren (bShevu 30b-31a) und Lüge ist verboten, wenn andere dadurch Schaden erfahren.

"Um des Friedens willen" darf man von der Wahrheit abweichen oder zugunsten anderer ethischer Imperative wie Demut, Bescheidenheit und Rücksichtnahme. Allerdings kann eine Gesellschaft nicht bestehen, in der die Wahrheitsvermutung völlig korrumpiert ist. Deshalb kann die Abwägung von punktuellem Leid für einen Einzelnen gegenüber dem Grundsatz der Wahrheit als Zusammenhalt der Gesellschaft nicht sehr großzügig ausfallen. Eine "weiße Lüge" ist also nur dann erlaubt, wenn die Gesellschaft als Ganzes oder eine Zweierbeziehung durch die Wucht der Wahrheit wirklichen Schaden nähme. [ ] - Das Verbot der Unwahrheit bezieht sich nicht nur auf die Äußerung unrichtiger Aussagen, es umfasst die Verbreitung aller falschen Ideen durch Taten, Sprache oder Schrift, aktiv oder passiv, direkt oder indirekt implizierend. Auch in Fällen, wo Lüge ausnahmsweise zugelassen wird, ist die Zweideutigkeit des Ausdrucks einer klaren Lüge vorzuziehen: zum Beispiel eine uneindeutige Aussage, die auf die Wahrheit deutet, die aber vom Zuhörer missverständlich ausgelegt werden kann.

Wenn wir lernen, nicht mehr zu lügen, sondern wahrhaftig zu sein, dann sind alle Dinge möglich, sogar die letzte Überwindung des Risikos, das Gott in Kauf genommen hatte, als er die Menschen erschuf.

Wahrheitspflicht als Schöpfungsgrundlage

Geschäftsbeziehungen erfordern dagegen notwendig das volle Verständnis aller bezogenen Parteien über das einzugehende Rechtsgeschäft (bT Kiddushin 49b). Man kann von Geschäftspartnern nicht erwarten, dass sie verborgene Vorbehalte und Intentionen erkennen. Der Verkäufer ist also verpflichtet die Vertragsbedingungen genau in der Weise einzuhalten, wie er sie mit dem Käufer vereinbart hat. Ein innerer Vorbehalt ist in geschäftlichen Bedingungen ohne Anwendbarkeit. - Allerdings ist Falscheid unter Zwang erlaubt. Anders als soziale Verpflichtungen, stellen Eid und Schwur moralische Verpflichtungen gegenüber Gott dar. Unter Ausübung von Zwang kann ein innerer Vorbehalt eingefügt werden, weil Gott unsere Gedanken lesen kann. [ ]

Die unbedingte Verpflichtung auf die Wahrheit als Fundament der Schöpfung Gottes hat im Judentum zwei Ziele: den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Grundvertrauen in die Aufrichtigkeit interpersonaler Kommunikation zu sichern und die moralische Integrität des Einzelnen als würdiges und respektiertes Mitglied der Gemeinschaft und als Geschöpf des wahrhaftigen Gottes aufrechtzuerhalten.

Ein Konflikt zwischen den Prinzipien von Wahrheit einerseits, Frieden, Demut und Respekt andererseits ist nicht immer leicht auszutragen. Wo der moralische Imperativ zur Wahrheit durch Ausnahmen unterhöhlt wird, werden subjektiven Interessen und selbstsüchtiger Manipulation Tür und Tor geöffnet. Der Einzelfall einer Abweichung von der Wahrheit erfordert ständige Praxis in der ethischen und rechtlichen Abwägung unseres Handelns. Die Anwendung zweideutiger Aussagen und eines inneren Vorbehaltes sind strengen Regeln unterworfen. In der Komplexität der heutigen Welt sind wir Menschen immer wieder vor moralische Alternativen gestellt, die Wahrheit und Lüge zum Inhalt unserer Überlegungen werden lassen. Die ständige Hingabe an die Prinzipien von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ist der erste Schritt, um eine Welt zu bewahren, in der gegenseitiger Respekt, Vertrauen und Frieden regieren.

Übergänge Beobachtungen eines Rabbiners. Von Walter Homolka. Patmos 2017.208 Seiten, geb., € 18,50

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