Wahrheit und Wirklichkeit

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Film wie Religion sind Orte kollektiver Erinnerung; ein Symposium des Instituts für Fundamentaltheologie der Universität Graz brachte vergangene Woche Kino und Theologie ins Gespräch. Ein Interview mit Andreas Gruber ("Hasenjagd") geht diesen Zusammenhängen nach. Die Filme des Griechen Theo Angelopoulos und die "Truman Show" des Australiers Peter Weir werden als Wege zu Erinnerung und Identitätssuche gelesen.

Dem Film eignet mehr als jedem anderen Medium eine besondere Eigenschaft: Er kann mit Zeit auf eine ganz besondere Weise umgehen. Da jeder Film nichts anderes ist als eine genau definierte Anzahl zu einem gegebenen Zeitpunkt aufgezeichneter Bilder, die zu einem anderen gegebenen Zeitpunkt seriell wiedergegeben werden (und zwar zusammen mit den je originalen oder zusammen mit manipulierten Ausschnitten aus der dem Bild zugeordneten Tonwelt), bietet er - stark vereinfacht gesprochen - die Möglichkeit, bestimmte Eigenschaften eben dieser gegebenen Zeitpunkte festzuhalten und wiederzugeben.

Nichts anderes ist eine Haupteigenschaft dessen, was wir als "Gedächtnis" bezeichnen: Die Erinnerung - der Modus des "Abrufens" aus jenem nach wie vor noch nicht hinreichend erforschten Gesamtsystem aus Nervenzellen, deren Vernetzungen und deren funktionaler Kooperation (und vielleicht mehr?) - greift ebenso auf Material zu, das wir zu einem gegebenen Zeitpunkt als Ausschnitt der Wirklichkeit gemerkt, gespeichert haben. Und ein Ausschnitt der Wirklichkeit muss es allemal bleiben - nicht nur wegen der Selektivität des menschlichen Wahrnehmungsapparates, der aus physiologischen Gründen nicht alle verfügbaren Informationen an das Gehirn weiterleiten kann, sondern auch wegen unserer angeborenen und erworbenen Filter, die nicht nur bestimmen, was von dem von den Sinnesorganen Erfassten nun tatsächlich und in welchem "Level" gespeichert wird: bewusste und willkürlich verfügbare Erinnerung ist ebenso wie die unbewusste und nur unwillkürlich zugängliche ein jedem Menschen bekanntes Phänomen.

Aus diesem "gemerkten" Wirklichkeitsausschnitt greifen wir nun im Modus des Erinnerns wieder einen Teilaspekt heraus. Nicht alle Sinneseindrücke bleiben verfügbar, und oft lösen Wahrnehmungen in einem Sinneskanal eine Erinnerung aus, die mit einem ganz anderen zusammenhängt - wie etwa ein Duft, den wir riechen und der an Berührungen erinnert. Wir unterliegen also einer zweifachen Selektion: einer ersten auf der Stufe des Erfassens und Speicherns, einer zweiten auf der Stufe des Abrufens (bewusst oder unbewusst) der Information.

Ausschnitte von Wirklichkeit

Mit dem Film verhält es sich nicht unähnlich. Ein bestimmter Ausschnitt von Eindrücken einer Wirklichkeit (einer realen Umgebung oder eines Sets, eines künstlich errichteten Drehortes) wird zu erfassen versucht und kann doch nur so weit erfasst werden, soweit technische Einschränkungen der Aufzeichnungsausrüstung dies zulassen und soweit die Instanzen des Regisseurs und des Kameramannes und zahlreiche weitere Rahmenbedingungen dies möglich machen.

Mit dem erfassten Material geschieht nun etwas, was es auf den ersten Blick vom Gedächtnis zu unterscheiden scheint: Es ist der Manipulation von Regisseur, Cutter, Effektspezialisten usw. ausgeliefert und wird die Sehenden und Hörenden erst nach Abschluss der Manipulation wieder erreichen. Dabei ist es unerheblich, ob eine solche Manipulation tatsächlich stattfindet oder nicht: Die gegebene Möglichkeit ist ausreichend, um die Rezipienten im Unklaren über die "Wahrhaftigkeit" des sicht- und hörbaren Materials zu lassen, wobei mit Wahrhaftigkeit einschränkend nur noch die Treue des Materials zu seiner es bedingenden Ausgangssituation gemeint ist.

Erinnerung: unsere inneren Filme

Egal, welches Genre und welche Filmgattung konsumiert wird: Man kann insbesondere über die Manipulationen der Zeitachse, die vorgenommen wurden, nur noch spekulieren bzw. den Angaben derer vertrauen, die den Film hergestellt haben - oder auch nicht. Und spätestens, wenn einander widersprechende Deutungen einer Situation (denn sogar Dokumentation ist immer auch Deutung) sichtbar gemacht werden, scheint Misstrauen gegenüber Wahrheitsansprüchen eines einzelnen Produktes, einer einzelnen Produktionsfirma angebracht. Naives Vertrauen in die Wirklichkeitstreue des Produktes hat in unserer medial leidgeprüften Gesellschaft keinen Platz mehr.

Doch verhält es sich mit dem Gedächtnis nicht doch sehr ähnlich? Sind nicht unsere inneren Filme, die wir "Erinnerungen" nennen, nur beschränkt verlässlich und nimmt nicht ihre Verlässlichkeit - ebenso wie die der "echten" Filme - mit der Distanz zu ihrem Ursprung ab? Erwarten wir nicht völlig zu Unrecht von unserem Gedächtnis, dass es unverfälscht bewahre, was uns lebenswichtig scheint? Angenehme Erinnerungen überdauern die unangenehmen; zeitliche Abfolgen werden verwechselt; aus verschiedenen Erinnerungen werden durch objektiv scheinende Verknüpfungen falsche Schlussfolgerungen gezogen; Emotionalität wird evoziert, wo eigentlich eine Reaktualisierung eines Geschehens stattfinden sollte, das nicht von dieser (oder von einer ganz anderen) getragen wurde.

Davor ist keine Erinnerung gefeit. Und alle Versuche, diese Erinnerung durch Schrift, Bild, Ton oder etwas anderes sinnlich Wahrnehmbares "originalgetreu" zu konservieren, sind - egal wie groß der quantitative Aufwand auch sein mag - zum Scheitern verurteilt, da die Rahmenbedingungen, die die Möglichkeit eines "originalgetreuen" Verständnisses einer Erinnerung eröffnen, sich mit der zeitlichen Entfernung zum Ursprung dieser Erinnerung verändern: Alter, Tod, Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Änderung von Sprache oder Informationsträgern.

"Tut dies zu meinem Gedächtnis"

Aber ist es die Aufgabe des Erinnerns, Originalität zu rekonstruieren? Sowohl in der Theologie als auch im Film geht es wohl nicht primär darum. Zwar lautet der zentrale Satz des katholischen Gottesdienstes und einer der wichtigsten Sätze des Neuen Testamentes: "Tut dies zu meinem Gedächtnis." (Lk 22,19). Aber dieser Satz ist auch die größte Herausforderung, die an die Theologie ergeht, eine Herausforderung, der man sich stellen muss: diesen Auftrag zu erfüllen und Wort und Wirken Jesu Christi im Rahmen der gesellschaftlichen Bedingungen des Hier und Jetzt wirksam zu machen. Es geht also nicht um Konservierung, sondern um angemessene Reaktualisierung.

Der Regisseur Andreas Gruber sagt zur Erinnerung, die er immer wieder thematisiert: "Erinnerung ist die Kunst, die Dinge im Nachhinein so zu benennen, dass man verzeihen kann." Die Dinge im Nachhinein benennen - und sie auf eine bestimmte Art und Weise benennen: Das ist eine Eigenschaft, die Film haben kann. Und wenn der Film dann noch auf so unmittelbare Weise an die Betrachtenden herantritt, dass er Erinnerung im Sinne Grubers aufnimmt und Einsicht in einen Zusammenhang von Weltumständen gewährt, dann ist er tatsächlich Kunstwerk und nicht nur kommerziell ausgerichteter Mechanismus, der durch seine Struktur und seine Angepasstheit an die Sehvorlieben des Menschen in der Gesellschaft der realisierten Moderne Erfolg hat. Theo Angelopoulos ist einer von jenen wenigen Begnadeten, die diese Einsichten gewähren können, wenn der Sehende es zulässt. In seinen Werken ist ebenfalls das Gedächtnis, das Eingedenken zentrales Thema - mit allen Härten und Ungewissheiten, vor allem aber immer mit jenem Anliegen, das vor allem Johann B. Metz vom Christentum einfordert: der Memoria der Opfer, dem Eingedenken der unschuldig Leidenden, die sich selbst nicht artikulieren können.

Benennen, um nicht zu vergessen; aber auch das Ermöglichen von Vergebung im Modus der Erinnerung ist eines der Bindeglieder zwischen Film und Theologie und auch einer der zentralen Hintergründe für das "Tut dies zu meinem Gedächtnis."

Der Autor

ist Assistent am Institut für Fundamentaltheologie der Universität Graz.

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