Wandel im politischen System

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So viel an Demonstrationen war noch nie, was die Frage auslöst: Was hat das zu bedeuten? Tatsächlich gehen dieser Tage innert kurzer Zeit mehr Menschen auf die Straßen als in den Jahren zuvor. In Bälde ziehen die Frächter durch Wien, diesfalls als Demonstranten. Zuvor schon waren es die Lehrer und die Schüler, die Bauern sowie diese Woche tausende Arbeiter und Angestellte aus mehreren Branchen. Die Ursachen? Die gespannte wirtschaftliche Lage scheint die politische Atmosphäre zu erhitzen. Die Unzufriedenheit über die eigenen, als misslich empfundenen Umstände als Arbeitnehmer und Steuerzahler lösen gefühlsmäßige Wallungen aus, machen empfänglich für politische Kampfparolen. Und die Politik lässt nicht erkennen, die Vorgänge verstanden zu haben. Es scheint, als lebten wir an einer politischen Zeitenwende, die diesfalls ohne Politik stattfindet.

Protest ist ein Signal, nicht Politik

Die Finanzkrise mit ihren miesen Kriegsgewinnlern und ihren Millionen an Geschädigten kann, wer sich dazu berufen fühlt, ruhig kleinreden. Das solcherart Gesagte stimmt ja ohnedies nicht. Ganz im Gegenteil. Diese Finanzkrise, namentlich der unermessliche Flur- und Kollateralschaden des entfesselten Kapitalismus auf ungeregelten Märkten durch unkontrollierte Personen, ist so groß, so enorm, so wuchtig, dass man schon sehr große Bilder bemühen muss, um seiner Dimension gerecht zu werden. Es ist ein Ereignis - nein, eigentlich ist es der größte anzunehmende Unfall der Marktwirtschaft, ein Super-GAU -, das eine historische Wende markiert, das eine neue Politisierung bewirkt, das ein neues Denken und Handeln zur Folge haben wird. Natürlich nicht bei allen, so vermessen sind nicht einmal jene, welche die Hoffnung auf die eine oder andere Besserung im Diesseits noch nicht aufgegeben haben. Aber die Wende, das Neue markiert sich - etwa in den Kundgebungen dieser Tage.

Der Zug der Zeit rast über ein Gewirr an Schienen durch die Gegenwart, und die Fahrgäste suchen in ihrer Unsicherheit nach der Politik, von der man Planung und Steuerung erwartet. Steht sie in der Lokomotive? Gibt sie lediglich den Schaffner? Hat sie gar im letzten Waggon Platz genommen? Oder ist sie längst schon abgehängt und nicht in der Lage, Richtung und Tempo des Zuges zu bestimmen? Letzeres, so ist zu befürchten, ist jedenfalls nicht auszuschließen. Obwohl gerade jetzt die Stunde der Politik schlüge, denn der Protest ist eine Antwort auf die Lage, ist Ausdruck einer Stimmung, kann aber eben die Politik nicht ersetzen. Diese sollte ihn zumindest verstehen, doch alleine daran könnte es schon fehlen.

Was ist denn nun die Wirklichkeit?

Die noch kurze Geschichte der Nachkriegszeit zeigt uns, wie sehr in nur wenigen historischen Momenten die Politik und die Bürger in Übereinstimmung, geradezu im Gleichklang handelten. Zu diesen Glücksfällen gehören etwa das Niederreißen des Eisernen Vorhangs, das Abtragen der Berliner Mauer. Aber erst spät verstand die Politik etwa die Signale der Friedensbewegung richtig, lange dauerte es, bis Umweltschutz ernst genommen wurde. Und ein weiteres bedeutsames Projekt, die Gleichberechtigung der Frauen, bedarf weiterhin des Anstoßes der Bürger und der Öffentlichkeit, weil die Politik alleine für sich zu träge wäre. Gut möglich und sogar wahrscheinlich, dass wir es gegenwärtig mit dem gleichen Phänomen zu tun haben.

Zu Führung gehört die Klarheit darüber, wie Wirklichkeit in ihrer Komplexität zu erfassen ist, wie sie dann reduziert wird und, darauf aufbauend, Handlungsoptionen entwickelt werden können, deren Umsetzung dann wiederum der Komplexität der Wirklichkeit entsprechen sollte. Das scheint derzeit kaum zu gelingen. Von der Politik gibt es noch keine grundsätzlichen Erklärungen über Ursache und Folgen der Finanzkrise, zugegebenermaßen durchaus erste Ankündigungen und kleinere Maßnahmen. Doch der große Wurf, die bestechende Analyse, die zwingenden Konsequenzen - von all diesen Erfordernissen ist derzeit noch zu wenig zu erkennen. Vielleicht ist es auch der Unmut darüber, der die Menschen auf die Straße treibt. Das ist neu, und allemal besser, als würden sie sich vergrämt zurückziehen. Vielleicht überfordern wir auch alle das politische System. Dann wäre auch darüber zu sprechen.

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