Was alles nicht mehr gebraucht wird

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Das gehört sich nicht, das tut man nicht, das sagt man nicht: Der Zeitgeist hat das meiste von dem mit Staub bedeckt, was man früher nicht tun oder sagen durfte. Was aber bleibt? Anmerkungen über Autoritäten und Vorbilder, das Amt des Bundespräsidenten und die „Missbrauchsdebatte“ rund um die katholische Kirche.

Der Zeitgeist bläst uns um die Ohren. Er wirbelt Staub auf. Aber tat er das nicht immer? Zeitgeist – was ist er, wie ist er? Zeitgeist – ein Wort, das es in dieser Zusammensetzung nur in der deutschen Sprache gibt. Auch die „Lingua franca“ des 21. Jahrhunderts, das Englische verwendet es. Nicht dass man den Begriff nicht verstünde. Nicht dass man nicht wüsste, wohin der Zeitgeist weht. Er stürmt bisweilen. Dann wieder ist er ein lindes Lüftchen. In diesen Tagen sei er ein Orkan, meinen viele. Er bricht Dämme, die lange Zeit gehalten haben. Das war manchmal gut so und dann wieder nicht.

Der Zeitgeist ändert. Er verändert. Althergebrachtes gilt nicht mehr. Anders ausgedrückt, und primitiver: wir müssen uns umgewöhnen. Wörter, die einst fast zur Alltagssprache gehörten, werden nicht mehr gebraucht. Letzteres im doppelten Sinn. Sie werden nicht mehr verwendet, weil sie nicht mehr benötigt werden.

Geschützt durch Sitte und Gesetz

Der Zeitgeist lässt Tabus verschwinden. Wir leben in einer Epoche der Enttabuisierung. Auch und vor allem der Säkularisierung. Aber davon später. Bleiben wir beim Tabu. Darunter sei, wie es heißt, eine gesellschaftliche Verhaltensregel zu verstehen. „Tabu“ ist, was man nicht nennen darf, verwenden darf, berühren darf. Auf Tonga, der ursprünglichen Heimstätte des Begriffs, war das tabu, was durch Sitte und Gesetz geschützt gewesen ist. Durch Sitte und Gesetz? Eher durch Sitte. Sigmund Freud hielt in diesem Fall nichts vom Gesetz. „Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich, erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.“ So schrieb der Begründer der Psychoanalyse in seinem Werk „Totem und Tabu“. Heute lässt sich die unverständliche Begründung und die verständliche Verwendung mit einem kurzen Satz umreißen: „Das gehört sich nicht!“ Das tut man nicht. Das sagt man nicht. Tabu ist gleich Verstoß gegen die Sitte. Allein, was sittlich ist und was unsittlich, wechselt Wesen und Bedeutung je nach der Zeit.

Das gehört sich nicht, das tut man nicht, das sagt man nicht? Der nun fast bis zum Überdruss zitierte Zeitgeist hat das meiste von dem mit Staub bedeckt, was man früher nicht tun oder nicht sagen durfte. Wer auf allfällige Enttabuisierung hinweist, kennt sich nicht aus in der aktuellen Sozialpsychologie.

Ist es demnach wirklich ein „Tsunami“, der das Fundament der katholischen Kirche zu unterspülen droht? In der Tat hält sich kaum jemand an die Aufschrift, die angeblich auf dem Apollotempel in Delphi gestanden hatte: mhden agan („medèn ágan“) – von nichts zu viel. Die Lateiner schrieben „ne quid nimis“. Und Paracelsus behauptete, dass die Dosis das Gift mache.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die Vielzahl von Missbrauchsfällen in kirchlichen Institutionen, die in den letzten Wochen aufgedeckt oder zumindest bekannt wurden, eine schwere Belastung für die Weltkirche sind. Das Langzeitgedächtnis hat bei den Opfern die Erinnerung stimuliert. Auch meine ist angeregt worden. Ich war in meiner Gymnasialzeit Schüler eines Heims der Jesuiten, in dem wir am Nachmittag unsere Schulaufgaben erledigen konnten. Wir haben die Patres als Autoritäten anerkannt; als Dreizehnjähriger habe ich mit einem von ihnen und einem Freund meine erste Auslandsreise in ein Jesuiten-Zeltlager in den Pyrenäen absolvieren dürfen. Weder am Universitätsplatz noch auf der Frankreichreise habe ich irgendetwas gemerkt, gesehen, entdeckt, was auch nur im Entferntesten einem angeblichen Missbrauch nahe gekommen wäre.

Orwells „Farm der Tiere“

Immer wieder ist auch von Gewalt die Rede, die in Internaten und Schulen ausgeübt worden sei. Sind wir damals solchen Gewaltorgien in Gestalt etwa von Ohrfeigen ausgesetzt gewesen? Wieder sagt das Langzeitgedächtnis: nein. Nicht einmal eine „g’sunde Watsch’n“ hat es gegeben. Oder kann ich mich nur nicht mehr erinnern? Im Gegenteil: Unser alter Mathematikprofessor, der damals aus der Pension zurückgerufen worden ist, hat „Sie“ zu uns gesagt. Jawohl, er hat die Zwölf- und Dreizehnjährigen „gesiezt“.

Aber vielleicht ein Beweis, dass die Missstände, die sich damals abspielten und mancherorts auch heute noch stattfinden, punktuelle sind. Heute kann man, darf man Gott sei Dank ruhig darüber reden. Damals haben die Opfer geschwiegen – aus Scham, aus Furcht. Dass sie nach Jahrzehnten erzählten, was damals geschah – das mag verständlich sein. Es gab Anlass für die Zweifel, die nun in den Medien vervielfältigt werden: Ist die Kirche, die katholische zumal, wirklich noch jene moralische Instanz, als die sie so lange anerkannt worden war?

Doch lassen wir – man verzeihe die skurrile Metapher – diese Kirche im Dorf. Die Enttabuisierung hat Begriffe obsolet gemacht, die früher fast zur Umgangssprache gehörten. „Ehrfurcht“ war einer davon, auch „Respekt“. Es sieht so aus, als ob das Ende der Autoritäten gekommen wäre, endgültig und ohne Unterschied. Wo sind die Zeiten, da im autoritätsgläubigen Österreich der Bundespräsident, der ja in der Hofburg residiert, einem Monarchen gleich betrachtet wurde? Schluss damit. Brauchen wir ihn wirklich? Die Diskussion ist im Gange, so wie von Zeit zu Zeit die britische Monarchie infrage gestellt wird. Mit Kurt Waldheim hat die Zeit der Ehrerbietung vor dem HBP, dem „Herrn Bundespräsidenten“, geendet. Seine Nachfolger waren und sind Menschen „wie du und ich“. Nur die Bodyguards sind geblieben, von Ehrerbietung oder gar Ehrfurcht ist da keine Spur mehr. Es gibt viele Menschen, die das nicht nur akzeptieren, sondern als gut und richtig empfinden. Alle Menschen sind gleich – dass manche gleicher sind als gleich, hat zwar George Orwell in seiner „Farm der Tiere“ geschrieben, aber wer wird schon Honoratioren mit Tieren gleichsetzen?

Papamobilität und Antipapisten

Ehrfurcht, Ehrerbietung, Vorbildwirkung – auch da hat das, was sich jüngst in der katholischen Kirche tat, Unheil gestiftet. Es gab Zeiten (an die ich mich noch gut erinnern kann), da der Papst jemand war, der ganz oben wohnte, fast schon im Himmel, der die Tiara trug, die dreifache Krone, auf der Sedia gestatoria getragen wurde und die ehrfürchtige Menschenmenge segnete. Noch einmal: Was heißt Ehrfurcht? Aus Ehre und Furcht zusammengesetzt. Furcht vor dem zu Ehrenden? Mag sein, dass im Fall des Oberhaupts der katholischen Kirche die Ehrfurcht ihre erste Delle bekam, als der Tragstuhl durch das Papamobil ersetzt wurde. Die Ausdrücke freilich, die heute Benedikt XVI. über sich ergehen lassen muss, haben mit diesem einen Tabu endgültig Schluss gemacht. Dass gerade in den Medien vor allem jene, die dieser Kirche fernstehen, diesbezüglich in der ersten Reihe der Antipapisten marschieren, ist Enttabuisierung in Reinkultur, sofern das Wort Kultur diesfalls verwendet werden darf. Es ist der bisher schlagendste Beweis der Säkularisierung unseres Zeitalters.

„Four letter words“

Darf man alles das? Es wäre interessant, sich soziopsychologisch und soziokulturell mit dem Wort und Begriff „dürfen“ auseinanderzusetzen. Man darf heute, was man früher nicht gedurft hatte. Man darf Wörter aussprechen, die man früher nicht in den Mund genommen hätte. Man darf Dinge schreiben, die man früher nicht aufs Papier gebracht oder in den Computer getippt hätte. Sind die amerikanischen Zeitungen keuscher als die unsrigen, weil sie etwa die „four letter words“ durch Punkte ersetzen? Ist die Sprache und deren Verwendung die Visitenkarte eines Volks?

Aber die Sprache ändert sich, wandelt sich, und mit ihr die Modewörter. Der „deutsche Greis“ im Vatikan ist zum Mittäter geworden, heißt es. Es g’hört sich durchaus, ihm das zu sagen – oder? Dass einer gesagt hat: „Du bist Petrus und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen – und die Mächte der Finsternis werden sie nicht überwältigen“, das ist vor Jahrtausenden geschrieben worden, und heute weiß angeblich niemand mehr, von wem.

Lassen wir es. Im Augenblick ist es schick, im Mainstream zu schwimmen. Es ist gefährlich, dem Zeitgeist den Rücken zuzuwenden. Es ist opportun, Autoritäten möglicherweise zu ertragen, aber Vorbilder abzulehnen. Die Enttabuisierung wird weitergehen. Als Tabu bleibt nur mehr der Tod. Aber wie lange noch?

Der Autor

Thomas Chorherr, geb. 1932, war viele Jahre Chefredakteur und schließlich Herausgeber der „Presse“. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: „Lob des Lobens“ (Styria), „Das Angst-Dilemma“ (Ecowin).

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