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Was es heißt, als Christ zu leben

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Die meisten Debatten rund um die Kirche betreffen Fragen der Lebensgestaltung. Welche Kompetenz hat die Kirche, sich in diesen Fragen zu äußern?

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Die meisten Debatten rund um die Kirche betreffen Fragen der Lebensgestaltung. Welche Kompetenz hat die Kirche, sich in diesen Fragen zu äußern?

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diefurche: Was versteht man eigentlich unter Moral?

Weihbischof P. Dr. Andreas Laun: Unter Moral versteht man die Summe aller sittlichen Ansprüche, die der Mensch in seinem Gewissen erkennt. Man spricht auch von moralischen „Gesetzen”. Aber diese „Gesetze” sind wesentlich anderer Natur als menschliche „Gesetze”, weil sie eben nicht menschlicher Verfügungsgewalt unterworfen, sondern ganz im Gegenteil dieser vorgeordnet sind. Sie stammen von Gott, und zwar insofern Gott in seine Schöpfung eine Fülle von Kostbarkeit hineingelegt hat. Unter diesen „Kostbarkeiten” oder Werten haben einige eine solche Nähe zu Gott, daß von ihnen eine gebieterische, verpflichtende Forderung ausgeht.

diefurche: Gibt es eine allgemein gültige Moral?

laun: Es ist in sich widersprüchlich, Moral in der Mehrzahl zu denken: Sittliche Gesetze können ihrem Wesen nach nur für alle oder für niemand gelten. „Verschiedenheiten” in moralischen Auffassungen lassen sich letztlich nur durch Nichtbeachtung unterschiedlicher Umstände, durch Mißverständnisse und schuldhafte oder nicht-schuldhafte Irrtümer erklären.

diefurche: Oder trägt jeder die richtige Moralvorstellung in sich? La un: Nein. Jeder Mensch hat aber die Fähigkeit, sittlich bedeutsame Werte zu erkennen, jeder hat ein Gewissen. Viel hängt aber davon ab, ob er diese seine Anlagen entfaltet. Dabei braucht er notwendig die Hilfe der Gemeinschaft, in die er hineinwächst. Auch in vielen anderen Bereichen des Lebens ist das so.

dieFurche: Ist Ethik und Moral dasselbe?

laun: Ja, aber das eine Wort kommt aus dem Griechischen, das andere aus dem Lateinischen.

diefurche: Warum entsteht der Eindruck, der Kirche gehe es nur um moralisch korrektes Verhalten? laun: Der Eindruck entsteht vor allem durch die Fragen der Außenwelt. Jeder, der sich der Kirche wirklich nähert, merkt: In der Mitte der Kirche geht es um Jesus, um die Nähe und die Gemeinschaft zu ihm. Von dieser Mitte aus begreift man dann auch: Sünde ist nicht „unkorrektes Verhalten” gegenüber einem unbegreiflichen, starren und unpersönlichen Gesetz, sondern Sünde ist die Entfremdung Gott gegenüber, der verräterische Judaskuß, der Spott angesichts des Gekreuzigten, der Haß jedweder Form des Heiligen gegenüber. Der Kirche geht es um die Uberwindung der Sünde, um die Versöhnung mit Gott und -damit identisch - um das Heil des Menschen.

Außerdem: Das Halten der Gebote ist eine Folge der Erlösung und nicht die „moralische Leistung”, die man erbringen muß, um sich die Erlösung zu verdienen. An uns liegt es, das Geschenk Gottes anzunehmen, nicht, es erst im Schweiß der moralischen Anstrengung sauer verdienen zu müssen! Es mag schon sein, daß auch Menschen der Kirche einen falschen Eindruck erwecken. Aber sehr oft ist es so, daß die eigentlichen Inhalte des Glaubens medial ausgefiltert werden. Im Bewußtsein der Leute bleiben dann nur noch „Gebote” zurück, und auch von diesen fast immer nur das „eine”, nämlich das sechste, das man für besonders unsinnig hält! Dann aber behauptet man umgekehrt, es ginge der Kirche vor allem „darum” - aber man verschweigt, daß die Fragen immer und immer wieder in diese Richtung gestellt werden.

diefurche: War Christus ein Moralapostel? ,

L\un: Nein! In seinem Schreiben zur Jahrtausendwende hat der Papst gesagt: Der Unterschied zwischen Christentum und'anderen Religionen bestehe darin: Die anderen Religionen sind Ausdruck der Sehnsucht des Menschen nach Gott und Resultat des Bemühens, zu Ihm zu gelangen. Im Christentum ist es umgekehrt: Nicht der Mensch macht sich auf den Weg zu Gott, sondern Gott geht zum Menschen. Christus ist der Sohn Gottes, ER ist die Erfüllung aller religiösen, aber weitgehend ohnmächtigen Sehnsucht der Menschen, in Ihm ist alles geschaffen, und nichts ist geworden ohne Ihn. Er ist das Alpha und Omega, durch Ihn ist ein neues, geheimnisvolles, wirklich über die Natur hinausgehendes, also übernatürliches Leben in die Welt gekommen. Erst wenn man das alles gesagt hat, darf man fragen: Welche Auswirkungen hat die Menschwerdung Gottes auf die Moral der Menschen? Die Antwort lautet: Christus hebt das Gebot Gottes nicht auf, sondern stellt es dort, wo es verloren gegangen ist, wieder

her. Mehr noch: Durch Ihn, nach Seinem Beispiel und mit Hilfe der Gnade Gottes ist eine neue Güte, eine neue Kraft des Vergebens, eine neue Liebe möglich geworden.

diefurche: Was ist die eigentliche Aufgabe der Moraltheologie? laun: Moraltheologie ist der Versuch, das Leben der Christen „für Gott in Christus Jesus” (Rom 6,11) in wissenschaftlicher Form darzustellen. Das heißt: Der Moraltheologe durchdenkt, was es in allen Bereichen des Lebens heißt, als Christ zu leben. Daraus ergeben sich seine Themen:

■ Was ist Freiheit, Gewissen, Liebesfähigkeit, Erkenntnis, menschliches Handeln?

■ Was ist der Leib, in welcher Beziehung steht er zum sittlichen Handeln?

■ Was heißt es, daß Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat, welchem inneren Gesetz gehorcht die Geschlechtlichkeit?

■ In der Geschichte und unserer Erfahrung begegnet uns die Sünde. Was ist Sünde, worin besteht sie?

■ Die wichtigste Frage der Moraltheologie, die alle anderen Fragen sozusagen begleitet, lautet: Was heißt es, Gott und den Nächsten zu lieben? Vor einigen Jahren haben viele Moraltheologen gesagt: Es gibt keine „Tat”, die nur Christen „können”; es gibt keine spezifisch christliche Moral im Handeln. Aber dabei haben sie den inneren Akt des Handelns übersehen. Denn wenn man die Innenseite des Tuns anschaut, ergibt sich ein ganz

anderes Bild. Dann gilt in höchstem Maß: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Anschaulich gesprochen: Wenn die Mutter Teresa einen Armen wäscht, ist das etwas anderes, als wenn ein bezahlter Pfleger „dasselbe” tut. Dieser Unterschied wird kleiner, besteht aber immer noch, wenn der Pfleger sein Werk aus humanistischen Motiven tut.

DIEFurchf:: Kann die Kirche in ihrer Morallehre irren?

laun: Das ist angesichts der Streitigkeiten der Zeit eine besonders heikle Frage. Man kann sie auch nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Vor allem ist zu bedenken, was mit „ Kirche” gemeint ist und was mit „Morallehre”.

Zunächst zur Kirche: Niemand soll sich bemühen, sein eigenes Kirchenbild zu entwickeln. Er sollte sich statt dessen vertiefen in das, was die hl. Schrift und das Lehramt über die Kirche sagen.

In Hinblick auf die gestellte Frage ist vor allem wichtig zu sehen: Natürlich sind wir alle Kirche. Das ist wahr, auch wenn dieser Satz heute manchmal als Mittel eingesetzt wird, um die Vielfalt der Aufgaben einzuebnen. Aber die Kirche ist - wie man heute gerne sagt - keine Monokultur, sondern eine bunte Wiese. Sie ist, um mit Paulus zu reden, ein wunderbarer Organismus, ausgestattet mit einer differenzierten Vielfalt, die dem Wunder des biologischen Organismus keineswegs nachsteht. In dieser so strukturierten Kirche haben die getauften Christen in einer Hinsicht eine Vorrangstellung, deren man sich zuerst, vor allem Reden von Ämtern, bewußt werden sollte. Alles, was es in der Kirche an besonderen Gaben gibt, ist um der Christen willen da. Noch genauer: Alles in der Kirche ist dem Heil der Menschen untergeordnet. Statt Heil kann man -mit dem hl. Franz von Sales - auch sagen: In der Kirche geht es um die Liebe, sie ist die Erfüllung aller Gebote, in der Liebe besteht die Heiligkeit, eine andere gibt es nicht. Daraus folgt: Maria ist die Erfüllung des Kirche-Seins, sie repräsentiert die Kirche, und daher muß sich jeder, der Christ sein will, an ihr orientieren. Pointiert gesagt: Wir Christen sind, in dieser Perspektive, alle weiblich, die Kirche ist eine Frau. Erst dann, nach dieser „marianischen Hierarchie”, kann man von der „petrinischen Hierarchie” des Papstes, der Bischöfe und der Priester sprechen.

diefurche: Welche besondere Aufgaben haben diese?

laun: Ihre Aufgabe ist es, den Christen zu dienen, und zwar ganz wesentlich durch die Lehre. Diese Lehre aber haben sie nicht aus sich selbst, sondern sie kommt von Gott, sie sind ihr untergeordnet, und Christus selbst

bewahrt die Kirche davor, in der Auslegung der Gebote zu irren. Allerdings, die Geschichte lehrt uns, was dieses „Nicht-Irren” bedeutet und was nicht. Über- und Untertreibungen sind gefährlich. Einige Thesen sollen das Gemeinte erläutern:

■ So wie es die Sünde in der heiligen Kirche gibt, so auch den Irrtum in der irrtumslosen Kirche. Das heißt: In der Kirche wurden schon oft Irrtümer verbreitet, und sie haben das Licht des Evangeliums verdunkelt. Das leugnen zu wollen, wäre kindisch und würde nur eine grenzenlose Unbildung verraten. Die Geschichte zeigt aber auch: Solche Einbrüche haben immer die Kirche aufgerüttelt und zur Klärung geführt.

■ Die Taten von Menschen der Kirche haben oft mit der Lehre nicht übereingestimmt. Aber man kann aus solchen Taten nicht folgern, die Kirche habe entsprechend gelehrt. Man denke zum Beispiel an Juden-Verfolgungen oder Religionskriege.

■ Manche Vertreter der Kirche haben sich nicht selten geirrt, unter anderem, weil sie sich nicht um die Einheit mit der Gesamtkirche, vor allem mit dem Papst, gekümmert haben.

■ Vertreter der Kirche haben zu gesellschaftlichen Irrtümern in sträflicher Weise geschwiegen.

diefurche: Kann man sich da auf die Morallehre der Kirche verlassen? laun: Wenn sich das kirchliche Lehramt einem bestimmten Thema '— in unserem Jahrhundert etwa der Ehelehre oder der Gewissensfreiheit in katholischem Sinn - aufmerksam zuwendet, Gott sei Dank - ja! Dabei bleibt dem mündigen Christen die wichtige Aufgabe, den Sinn einer solchen Lehre sorgfältig zu studieren und sie zur eigenen Überzeugung werden zu lassen.

Es wäre wohl klüger, statt über abstrakte Grenzen kirchlicher Lehrvollmacht zu diskutieren, sich den konkreten Fragen zuzuwenden und sie im Licht der lehramtlichen Dokumente zu analysieren. Manche Kritik und manches Mißtrauen würde dann von selbst verstummen und tiefer Bewunderung weichen. Das setzt freilich voraus, da man die Lehre der Kirche kennt.

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