Was im Mittleren Osten passiert, ist kein Religionskrieg

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Wenn "Gott" auf den Fahnen von IS & Co und zur Begründung von Kriegen und Gewalttaten zu sehen ist: Religion wird da von einer Propagandamaschinerie instrumentalisiert. Ein Gastkommentar.

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Wenn "Gott" auf den Fahnen von IS & Co und zur Begründung von Kriegen und Gewalttaten zu sehen ist: Religion wird da von einer Propagandamaschinerie instrumentalisiert. Ein Gastkommentar.

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Die Konflikte und Kriege, die derzeit im Mittleren Osten, im Jemen, in Libyen toben, werden gerne als Religionskriege vereinfacht, besonders in kleinformatigen Blättern und sozialen Netzwerken.

Dabei wird jedoch von den rivalisierenden Parteien Religion als Ursache von Auseinandersetzungen und Aggressionen nur vorgeschoben mit dem Ziel, die tatsächlichen Hintergründe zu verschleiern.

Jedoch um Götter und Geister, Engel und Teufel kann man nicht kämpfen. Religionen sind gedankliche Systeme, die in Köpfen existieren, nicht sichtbar und nicht greifbar. Niemandem kann man seinen Gott mit der Waffe in der Hand entreißen. Glaubensinhalte, die allen naturwissenschaftlichen Gesetzen und Erkenntnissen widersprechen (etwa jungfräuliche Zeugung, Himmelfahrt, Auferstehung von den Toten, die Überhöhungen in Heiligenlegenden) sind charakteristisch nicht nur für das Christentum, auch für den Islam. Solche Vorstellungen kann man nicht mit Kanonen erobern, man kann sie jemandem nicht mit Gewalt nehmen und auch nicht mit Gewalt aufzwingen.

Schlachten toben selten um Bücher

Zwar materialisieren sich Glaubensinhalte in verschiedenen Formen, etwa heiligen Schriften, die Anweisungen, Lehren, historische oder mythische Begebenheiten festhalten und die durch die Jahrhunderte tradiert werden. Aber selten hört man, dass Schlachten um Bücher toben.

Um andere materielle Hervorbringungen von Glaubenssystemen, heilige Objekte und heilige Orte, etwa Kultstätten, Gotteshäuser, Heiligengräber könnte man schon kämpfen. Das geschieht aber eigentlich nicht in den gegenwärtigen kriegerischen Handlungen. Zwar werden Attentate auf Moscheen und Pilgerstätten verübt, aber nicht mit dem Ziel, diese zu erobern, sondern in der Absicht, sie zu zerstören oder den Feind und seine Anhänger zu schwächen.

Es geht im Mittleren Osten nicht darum, welcher Gott mehr Gläubige hat, es herrscht ja Konsens darüber, dass es nur diesen einen gibt. Es herrscht sogar weitgehend Konsens, dass der jüdische, zoroastrische, christliche und muslimische ein und derselbe Gott sei. Es geht auch nicht darum, welche Strömung oder Auslegung die richtige sei.

Theologisch gibt es nur geringe Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten. Der Gebetsritus ist unterschiedlich, auch die Moscheebauweise in manchem Detail und Dekor, manche Überlieferungen (Ahadith) erkennen nur die einen an. Für Schiiten ist die Familie des Propheten Muhammad wichtiger als für Sunniten, unterschiedlich sind auch Auslegungen und Vorschriften in den Rechtsschulen, dies jedoch auch innerhalb der Sunniten und innerhalb jener, die den Schiiten zugerechnet werden.

Der schiitische Iran kämpft auf Seiten des alawitischen Assad, betrachtet aber die Alawiten als Ketzer. Weiters unterstützt der schiitische Iran die sunnitische Hamas. Der sunnitische Erdogan kämpft gegen die mehrheitlich sunnitischen Kurden. Das wahabitische Saudi-Arabien und die sunnitische Türkei sind einander theologisch nicht gewogen, aber sie haben einen gemeinsamen Feind: Assad. Erdogan sympathisiert mit den Muslimbrüdern, die in Ägypten mit saudischer Beihilfe hinweggeputscht wurden. Der sunnitische Daesh/IS, die sunnitische Al-Qaida und die sunnitische AnNusra-Front bekämpfen einander wechselseitig.

Kurz gesagt, die Fronten und Allianzen verlaufen quer durch die religiösen Gruppen. Es geht in Syrien, Irak, Afghanistan, im Jemen und in Libyen nicht um Gott und Glauben, sondern um geostrategische Interessen und darum, welche Regionalmacht mehr Einfluss, Macht und Zugriff auf Ressourcen hat.

Geostrategische Interessen

Was so genannte Religionskriege aber charakterisiert, ist, dass sie lange dauern, weil man mit Heilsversprechen ziemlich einfach immer wieder das Kanonenfutter rekrutieren kann.

Darin ist Daesh/IS Meister, weil er den Hoffnungslosen in den Vorstädten und Slums eine Perspektive bietet: Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, ein scheinbar höheres Ziel, an dem man mitarbeiten kann, und natürlich die Gewissheit, im Falle eines Märtyrertods sofort ins Himmelreich einzugehen. Würde ein Machthaber jedoch werben: Komm nach Syrien, wir müssen zwecks Errichtung unseres Staates dieses oder jenes Ölfeld erobern oder Palmyra zerstören, würden die angesprochenen Jugendlichen, egal welcher Vorstadt und welchen Glaubens sehr viel eher denken: Was interessieren mich deine Ölquelle und deine alten Steine, stirb doch selber!

Ein solches ideologisches Angebot mit Perspektive im Diesseits und im Jenseits hat der globale Westen nicht. Dessen Versprechungen, unsere so genannten Werte, die jetzt so viel beschworen werden, Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung und ähnliche Errungenschaften sind für all jene nur Schlagworte, die erfahren müssen, dass sie nicht für alle gleichermaßen gelten. Bleiben also noch die Verheißungen des Konsum, aber von dem sind dieselben Personen aus Geldmangel ebenfalls ausgeschlossen.

Die Gläubigen im Nahen und Mittleren Osten haben seit zweitausend Jahren gelernt, miteinander auszukommen und einander zu respektieren. Das funktioniert immer dann nicht, wenn divergierende machtpolitische Interessen die einzelnen Religionsgruppen mittels einer Propagandamaschinerie für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Die Autorin ist Ethnologin und Publizistin, lehrt, forscht und schreibt zu den Themen Mobilitäten, Fremdwahrnehmungen und Anthropologie des Islam

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