Was ist die Scharia?

Über kaum einen islambezogenen Begriff wurde und wird so kontrovers diskutiert wie über "Scharia“. Die einen fürchten die Scharia, weil sie sie mit menschenfeindlichen Handlungen und Einstellungen assoziieren, die anderen fordern sie, weil sie sie als Ausdruck göttlichen Willens verstehen.

Scharia bedeutet im Arabischen der Weg zur Quelle (Tränke). Sie ist also der Weg zu Gott. Und Gott ist nicht irgendwo, weit weg über den Himmeln, sondern er ist näher als die Halsschlagader (Koran, 50:16). Er ist im Hier und Jetzt. Auch der Weg zu ihm ist im Hier und Jetzt. Wir müssen nicht auf den Tod warten, um ihm zu begegnen, sondern wir können und sollen ihn hier und jetzt erfahren.

Die Frage ist aber: Wie erfährt man Gott? Nicht wenige Muslime sehen primär den juristischen Weg als ihre Scharia, also ihren Weg zu Gott. Der juristische Weg beschreibt Gesetze, an die es sich zu halten gilt. Andere Muslime sehen ihren Weg zu Gott nicht primär als einen juristischen, sondern als spirituellen und ethischen Weg. Was ist der Unterschied? Wer eine juristische Beziehung zu Gott aufbaut, interessiert sich weniger für Gott selbst, sondern dafür, einer Liste an Gesetzen gerecht zu werden. Dabei rückt die persönliche Gott-Mensch-Beziehung in den Hintergrund. Anders sieht es aber aus bei einer Sehnsucht nach der Liebe Gottes, nach einer individuellen Beziehung voller Vertrauen, Geborgenheit und Offenheit. Dem Richter wird gehorcht und seinem Urteil wird gefolgt, eine Mutter liebt man aber und sehnt sich nach ihrer liebenden Wärme.

Gesetze, die unsere Gesellschaftsordnung regeln, sind sicher notwendig, das ist keine Frage. Die Frage ist jedoch, ob man seine Beziehung zu Gott über Gesetze definieren will, oder vielmehr über eine wechselseitige Liebe zu Gott, die ihren Ausdruck im Charakter des Menschen und seinen guten Handlungen findet.

Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster