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Was ist eigentlich Judentum?

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Was ist eigentlich Judentum? Eine Religion, eine Nation „wie alle andern“ oder beides zugleich? Eine Rasse, eine Zivilisation? Quot capita, tot mentes! Es ist dies eine der umstrittensten Fragen, auf die es keine objektive Antwort geben kann, da jeder nur aus seinem Gesichtswinkel, von seinem Standort aus antworten kann. Eigentlich geht es dabei um vier Fragen: 1. Gibt es so etwas wie einen jüdischen Volksgeist oder Volkscharakter, der im gesamten jüdischen Geschichtsverlauf, im antiken wie im modernen Judentum, im Lande Israel wie in den Diasporabcmeinden, wirksam ist. 2. Ist etwas vorhanden, das lr-Grunde allen Juden, Gläubigen und Agnostikern, Zionisten und Assimi-lanten gemeinsam und 3. dem Judentum im Gegensatz zur nichtjüdischen Welt eigen ist? Dazu gesellt sich noch eine 4. Frage, die uns Juden oft von gläubigen Christen gestellt wird: „Wenn Sie in Ihrem sozialistischem Kibbuz nicht an die biblische Offenbarung, an die Verheißung Gottes an Sein Volk Israel glauben, wozu sind Sie dann im verheißenen Lande?“

Der verewigte Oberrabbiner von Jerusalem, Cook, hat einem strenggläubigen Frommen auf seine Frage, warum er sich so sehr für die atheistischen jungen Pioniere in den Kibbuzim einsetze und ihren Verkehr suche, gelassen erwidert: „All ihr Tun ist Gebet!“

Zur Zeit der „Grundlegung“ veröffentlichte der deutsch-jüdische assimilierte und sozialistisch-revolutionäre Schriftsteller Artur Hol-litscher seine „Reise durchs jüdische Palästina“, in der er ausführlich von seinen zahllosen nächtelangen hitzigen Diskussionen mit den jungen Siedlern berichtete. Hollitscher interessierte vor allem die Frage der Beweggründe für die Handlungsweise der jungen Pioniere; gleichzeitig suchte er ihnen zu suggerieren, daß sie aus religiösen Gründen zur Landarbeit und zur Kommune gefunden hätten. Darauf antworteten nicht wenige: „Wir,sind Atheisten!“ Und Hollitscher fügte nachdenklich hinzu: „Wir wären vielleicht weitergekommen, wenn ich statt des hundertfach mißbrauchten Wortes ,Re-ligion' ,Messianismus' gesagt hätte. Zweifellos handelt es sich bei den

Bestrebungen der zwanziger Jahre um eine messianische Bewegung, im modernen sozialistischen Gewände zwar, aber gespeist aus den gleichen Quellen wie die Lehren der Propheten Israels;“

In den Aussagen zweier grundverschiedener Persönlichkeiten haben wir vielleicht den Kern einer Antwort auf unser Problem. Einmal: Judentum ist nicht in erster Linie Glauben und Lehre, sondern Tun!

Diese Auffassung vom Vorrang des Handelns geht durchs ganze jüdische Schrifttum. Ein bekannter „Mi-dTasch“ (Spruch) lautet: „Würden die Juden nur einen einzigen Tag lang alle Gebote einhalten, würde der Messias erscheinen.“ Bei den liberalen Religionsphilosophen tritt an die Stelle der Gesetzesbeobachtung die „Tätige Menschenliebe“.

Messianismus und Prophetismus, ursprünglich in religiöser, später in verschiedenen weltlichen Formen dargestellt, als Humanismus, Liberalismus, Pazifismus, Universalismus und Sozialismus, sind die Urformen und Urkräfte jüdischer Welterkenntnis, welterlösender und weltbefreiender Ideen. In diesem Sinne erscheint es verfehlt, „gläubige“ Ortodoxe und „ungläubige“ Sozialisten einander gegenüberzustellen. Die einen wie die andern handeln aus ihrem Glauben, und nach gemeinjüdischer Auffassung ist ihr Glaube nur so viel wert, wie er sich im rechten Tun ausdrückt. Professor Carlo Schmid, NichtJude und profunder Kennerjüdischen Denkens, hat kürzlich in einem Essay (über das Buch von Schlamm „Wer ist Jude?“) den Gegensatz von jüdischer und christlich-abendländischer Art treffend herausgestellt: „Wenn der Christ in seinem Heiligsten angesprochen wird, denkt er an die Erlösung ins Transzendentale; der Jude denkt in dem, was ihm am Heiligsten ist, an die Verwirklichung der Gerechtigkeit hier auf Erden!“ Die Juden, gleich anderen Völkern, sind das Produkt ihrer Geschichte; in diesem Fall einer 3000jährigen Geschichte, die, von Israel ausgehend, allmählich in alle Länder der Erde hineinreicht. Aber die Formationsperiode, die Achsenzeit jüdischer Geschichte, ist das Jahrhundert der großen Propheten, mit ihrer Vision einer besseren, menschlicheren Welt, zu deren allmählichen Verwirklichung der Mensch aufgefordert ist. Historisch gesehen waren diese Propheten aber nicht weitabgewandte, gottestrunkene und esoterische Mystiker, sondern' praktische Idealisten, weltoffene Politiker, kluge Beobachter des Weltgeschehens, soziale Reformer, geistige Rebellen, die nicht nur gegen den Götzendienst wetterten, sondern auch gegen den veräußerlichten Kult, gegen den Vorrang des Zeremoniells, es waren Männer, die den formalen Kultvorschrifteh die klaren einfachen Gebote allmensch-lieher Ethik entgegenstellten.

All dies ist nicht gerade originell: Martin Bubers Lebenswerk ist nur eine Paraphrase dieses Gedankens; vielleicht die besten Darstellungen dieser Ideen sind zwei kleine Schriften, die beide durch Buber beeinflußt worden sind: des Deutschen Wilhelm Michel Deutungsversuch: „Martin Bubers Gang in die Wirklichkeit“, das den Gedanken der messianischen Verwirklichung in den Vordergrund stellt („Gott ist wirklich; der Mensch verwirklicht“), und Professor Hans Kohns Studie: „Die politische Idee des Judentums“, die die unlösbare Verknüpfung von politischen und religiösen, ethischen und sozialen Ideen in den historischen messiani-stischen Bewegungen darstellt und mit einem alten „Midrasch“ schließt: „Es ist dir nicht gegeben, das Werk zu vollenden; dennoch darfst du dich ihm nicht entziehen!“

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