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"Der Wille zum Schein. Über Wahrheit und Lüge" lautete das Thema des diesjährigen Philosophicum Lech, dem die furche auch heuer wieder ein Dossier widmet: Die Philosophin Simone Dietz und Rabbiner Walter Homolka führen ein Streitgespräch über die moralische Bewertung der Lüge; dazu dokumentieren wir stark gekürzt die (Vortrags-)Texte von Josef Mitterer - über die Beliebigkeit - und Alfred Schirlbauer - über Bildungslügen. Im Frühjahr 2005 erscheint im Verlag Zsolnay der Tagungsband. Redaktionelle Gestaltung: Rudolf Mitlöhner Überlegungen zur Frage des Pilatus vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen "Willens zum Schein".

Mein Kind, was werden wir nun sprechen?", fragt bangen Herzens Papageno in brenzliger Lage das ihm noch kaum bekannte Mädchen an seiner Seite. "Die Wahrheit", gibt Pamina ohne Zaudern zur Antwort, "die Wahrheit" - das zweite Mal in hellem C-Dur -, "wär' sie auch Verbrechen." Schöner, überzeugender, auch musikalisch unprätentiöser lässt sich Wahrheit nicht ausdrücken. Es klingt - im doppelten Sinn - ganz einfach: sagen, was ist, wie es ist, ohne Umschweife, den eigenen Empfindungen treu, ohne Rücksicht auf mögliche Sanktionen ("wär' sie auch" - in den Augen der Mächtigen - "Verbrechen").

So klar wie in der "Zauberflöte" liegen die Dinge auch bei Mozart nicht immer. In "Le nozze di Figaro" oder, mehr noch, "Così fan tutte" geht es weit doppelbödiger zu, wird ein frivoles Spiel bis zum Äußersten getrieben. Der Zugang zur "Wahrheit" ist dort schlussendlich ein weitaus pragmatischerer: "Glücklich der Mensch, der alles von der richtigen Seite nimmt", heißt es etwa am Schluss der "Così", "mitten in den Stürmen der Welt wird er holden Frieden finden."

Eine Tochter der Zeit

Das ist nun, je nach Geschmack, eine augenzwinkernde oder zynische Lebensweisheit - und somit schon recht nahe an der "Wahrheit" als "Tochter der Zeit", jedenfalls in der tagespolitiktauglichen Interpretation von Andreas Khol: Wahr ist, was nützt. Der ursprüngliche Sinn des lateinischen Spruchs ("Veritas filia temporis") ist freilich ein anderer: Es geht um die Wahrheit, die nach und nach, im Laufe der Zeit ans Licht kommt. Doch davon später.

Was aber ist Wahrheit? Diese sogenannte Pilatus-Frage wurde auch mehrmals im Laufe des diesjährigen Philosophicum Lech aufgeworfen. Die meisten der Referenten und Referentinnen zäumten indes das Pferd von der anderen Seite, der Lüge her auf. Unter dem Nietzsche'schen Motto "Der Wille zum Schein" (so der Titel des Symposions) wurde die Lüge in ihren mannigfaltigen Varianten, von der Illusion über die Notlüge (die auch ein Akt der Barmherzigkeit sein kann; siehe S. 22 f.!) bis hin zur bewussten Täuschung, thematisiert und als Konstitutivum menschlicher Existenz vorgestellt. Die Wahrheit kam nur implizit, gewissermaßen als Negativfolie der konkreten, durch die "Lüge" bestimmten Realität in den Blick.

Die Kunst der Lüge

Man möchte nun meinen, es müsste genau umgekehrt sein; doch erscheint die Lüge offensichtlich schillernder, verlockender als die Wahrheit. Ganz ehrlich (sic!): Wer wollte in einer Welt leben, in der alle nur die Wahrheit sagen? Ist ein, nennen wir es einmal: freier, kreativer Umgang mit der "Wahrheit" im weitesten Sinn nicht auch eine Kunst, die das Leben erst erträglich macht? Ähnlich verhält es sich ja mit dem Bösen und dem Guten. Ein deutscher Autor formulierte dazu einmal - bei einem früheren Philosophicum - einen Gedanken, den er das Humphrey-Bogart-Paradoxon nannte: "Der ganz Gute ist nicht ganz so gut, wie der nicht ganz so Gute." Und wer hätte nicht schon im Deutsch- und Musikunterricht gelernt, dass die "Bösewichte" die im Vergleich mit den Edlen und Guten weitaus interessanteren Charaktere sind?

Deswegen ist es freilich nicht schon müßig, nach der Wahrheit zu fragen. Bei allem "Willen zum Schein" gehört die Idee der Wahrheit, der Anspruch auf Wahrhaftigkeit, die Hoffnung, dass das Wahre über das Falsche (was immer das jeweils meint) triumphieren möge, zum Wesen des Menschen. Unerwähnt blieb beim Philosophicum der textliche Zusammenhang der Pilatus-Frage - das Verhör Jesu vor Pilatus gemäß dem Johannes-Evangelium. Der Frage unmittelbar voraus geht die Aussage Jesu: "Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme" (Joh 18,37). Darauf folgt die - wie sollte es anders sein - verständnislose Frage des römischen Statthalters: "Was ist Wahrheit?" Diese Frage bleibt unbeantwortet, aber im Kontext des Evangeliums gibt es keinen Zweifel: Jesus selbst ist die Wahrheit (vgl. Joh 14,6: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben"). Das nachzusprechen ist freilich Sache des Glaubens, keine philosophische Einsicht. Aber es weist vielleicht in eine Richtung, die uns der Wahrheit näher kommen lässt: Wahrheit als existenzielle Kategorie.

In der Wahrheit leben

Das griechische Wort für Wahrheit, aletheia, meint das, was nicht dem Fluss Lethe, dem Fluss des Vergessens anheimfällt. Der Begriff gewinnt so eine historische Dimension: Wahrheit hat mit Erinnerung zu tun, wer geschichtslos ist, kann auch nicht wahrhaftig sein. Was der polnische Intellektuelle Adam Michnik einmal für den Umgang mit der NS-Vergangenheit formuliert hat, ließe sich auch als allgemein gültige Formel verstehen: Amnestie, aber keine Amnesie - also: Vergessen im Sinne von Vergebung, aber keine Erinnerungslosigkeit (vielleicht wäre hier auch ein Anknüpfungspunkt für eine Auseinandersetzung mit Rudolf Burgers Radikalkritik an der Gedächtniskultur zu gewinnen).

Das könnte dann hinführen zu Václav Havels "Versuch, in der Wahrheit zu leben", der nur aus dem Wissen um die Geschichte mit Blick auf die Zukunft je in der Gegenwart gelingen will. Havels Überlegungen verdanken sich natürlich seiner persönlichen Erfahrung eines totalitären Regimes. Aber auch unter demokratisch-rechtsstaatlichen Bedingungen bleibt dieser "Versuch" permanente Herausforderung. Die "Wahrheit", in der "zu leben" man bestrebt ist, erweist sich dabei im eigentlichen Sinn als eine "Tochter der Zeit".

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