Was wird morgen sein?

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Unser Weltvertrauen ist erschüttert, meint FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher zur globalen Finanzkrise – und fragt nach deren Wurzeln.

Wer werden wir geworden sein, wenn das vorbei ist? Warum haben – um die Frage Leopold von Rankes zu stellen – Gesellschaften und Institutionen den Ruin vor Augen und gehen doch hinein? […]

Gesellschaften wurden zivilisiert, um genau das zu verhindern, was nun möglich scheint: dass sie durch rücksichtsloses Handeln Einzelner zerstört werden. Wenn dieser Schutz nicht mehr garantiert ist, beginnt das große Zweifeln an der Gesellschaft und an der Tragfähigkeit ihrer bisherigen Vernunft. Das ist die gegenwärtige Lage der Politik. Aber weil Millionen Deutsche während des letzten Jahrzehnts gedrängt wurden, ihr Leben neoliberal umzustellen, den Finanzmärkten zu trauen und dem Staat zu misstrauen, ist es auch die Lage jedes Einzelnen. Er muss nachträglich einsehen, dass die Vernünftigkeit seiner wichtigsten Lebensentscheidungen auf einem rein spekulativen System basierte.

Welche Gründe hat es, dass wir in einer Gesellschaft leben, die im Begriff ist, nach ihren natürlichen Lebensräumen nun auch ihre soziale Umwelt, die Lebenszeit einer ganzen Generation, sehenden Auges zu ruinieren? Jared Diamond hat in seinem Buch „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ die Ursachen genannt, die Eliten überhaupt die Chance geben, ihre Gesellschaften zu zerstören. […]

Die Krise verändert nicht nur die Welt, …

Nach Diamond steigt die Bereitschaft handelnder Eliten, eine Gesellschaft zu ruinieren, proportional mit ihrer Möglichkeit, sich von der Gesamtgesellschaft ökonomisch zu isolieren. Je mehr ihnen diese Isolierung gelingt, desto weniger werden sie von den Folgen für alle betroffen sein.

Wer meint, dass die aktuelle Vernichtung des Grundvertrauens in die Rationalität ökonomischen Handelns ohne Folgen bleibt, wird sich spätestens bei den nächsten Wahlen getäuscht sehen. Über Nacht ist die Welt des Geldes fiktionalisiert worden. Die Flucht in die Verstaatlichung, die von den Banken selbst angeführt wird, ist der Bankrott der Metaphysik des Marktes. Jetzt, da völlige Unklarheit darüber herrscht, was ist und was nicht ist, kann nur der Staat noch dezionistisch verfügen, dass etwas und nicht vielmehr nichts existiert. Wenn je, dann gilt heute der Satz von Friedrich Engels: „Das Wesen des Staates ist die Angst der Menschheit vor sich selbst.“

… sie verändert das Denken

Die Bundeskanzlerin hatte recht, als sie in ihrer Regierungserklärung von einer Bedrohung unserer Gesellschaftsordnung sprach. Von den Bankuntergängen in der Wall Street geht eine Kettenreaktion aus, vergleichbar mit der epochalen Wirkung, die das Erdbeben von Lissabon im achtzehnten Jahrhundert auf die Köpfe der Aufklärung ausübte. Damals lautete die Frage, wie ein gütiger Gott eine solche Katastrophe hatte zulassen können. Die Folgen waren Zweifel an der Tragfähigkeit seiner Welt und ein Selbstaufklärungsprozess, der im europäischen Gedankengebäude fast keinen Stein auf dem anderen ließ.

Wie konnte zugelassen werden, was gerade geschieht? Will man die Antwort darauf nicht einer linken Demagogie überlassen, muss man über die Spaltung unserer Gesellschaft in diejenigen reden, die Konsequenzen erleiden, und diejenigen, die von ihnen verschont werden oder gar profitieren. Die bürgerliche Welt hat schon mehrfach bewiesen, dass sie aus paradigmatischen Katastrophen lernen kann. Jetzt, im neuesten weltbürgerkriegsähnlichen Zustand, muss sie die härteste Auseinandersetzung mit sich selbst führen. Die Krise verändert nicht nur die Welt. Sie verändert das Denken.

„Frankfurter Allgemeine“, 11./12. Oktober 2008

„Die bürgerliche Welt hat schon mehrfach bewiesen, dass sie aus paradigmatischen Katastrophen lernen kann. “

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