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Weltgeschichtlicher Advent

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Gedankendes Sozialethikers Johannes Messner über die wirtschaftlich-sozialen Umbrüche der Gegenwart - und die bleibende Hoffnung.

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Gedankendes Sozialethikers Johannes Messner über die wirtschaftlich-sozialen Umbrüche der Gegenwart - und die bleibende Hoffnung.

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Nicht, daß dem Advent dieses Jahres eine besondere weltgeschichtliche Bedeutung zukäme, ist der Gedanke, sondern daß wir im Jahrhundert eines weltgeschichtlichen Advents leben. An der Jahrhundertwende ahnten noch wenige, daß der Glaube des 19. Jahrhunderts an das unbedingt Gute und Vernünftige in der menschlichen Existenz mit den daran sich anknüpfenden Hoffnungen auf den unbegrenzten Fortschritt sich als tragische Selbsttäuschung enthüllen mußte. Zwei Weltkriege haben das Böse und Widervernünftige im Menschen als höchst reale Mächte in seinem Schicksal erwiesen. Nichtendigende politische, wirtschaftliche und soziale Krisen machten die persönliche und soziale Existenz des Menschen noch weiter problematisch. Das internationale Leben ist seit Jahren von Spannungen beherrscht, daß es Ungezählten als sinnlos erscheint, noch an Zukunft zu denken. Und doch wäre die menschliche Natur nicht, was sie ist, würde der Mensch anders leben können als in Hoffnung, und würde er nicht ständig ausschauen nach Anzeichen, die trotz allem in die Zukunft weisen, mag der Weg in sie auch lang, dunkel und schwer sein. Ausschauend nach den Zeichen des Kommenden, leben wir zwischen Zagen und Hoffnung.

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Inzwischen ist allerdings schon ein so weitgehender Umbruch im Denken und Urteil über die persönliche und soziale Existenz des Menschen erfolgt, daß die heutige junge Generation kaum mehr weiß, was der eingangs erwähnte Glaube an den Menschen und seine Zukunft war, und sich mit Staunen fragt, wie er sich so völlig von der Wirklichkeit entfernen konnte. Dieser Umbruch ist noch in vollem Gange. Dauernd ist die Menschheit durch Konflikte ideologischer Mächte von Katastrophen bedroht, die ihre Zukunft und ihre Existenz in Frage stellen. Gerade von der Schärfe dieser ideologischen Spannungen geht aber auch eine so tiefe Erregung des sozialen Gewissens der Welt aus, daß von daher auch unsere Hoffnung Nahrung gewinnt. Wäre es sonst nichts, so würde die über die ganze Welt hingehende Erregung des sozialen Gewissens keinen Zweifel lassen, daß wir* in einem weltgeschichtlichen Advent leben, einem wirklichen Advent mit allem, was ein solcher bedeutet: drohendes Verhängnis, Sorge, Zeit des Wartens, Einkehr, Umkehr, Hoffnung auf Rettung. In diesem Sinne die heutige Situation einmal auch positiv wertend in der weltgeschichtlichen Perspektive zu sehen, mag mithelfen, dem lähmenden Pessimismus zu begegnen, der sich zu leicht gewöhnt, nur das Gegensätzliche in den ideologischen Mächten, das Gewaltsame, Bedrohliche und Ausweglose im Auge zu haben, und nur die Notlösungen, in denen sich die Weltpolitik seit Jahren bewegt.

Wenn wir auf die Erregung des sozialen Gewissens bis in seine Tiefen hinweisen, so denken wir daran, daß nichts anderes als die unmittelbare Bedrohung durch jene ideologischen Spannungen es bewirkt hat, daß heute gewaltige Anstrengungen zur Förderung der wirtschaftlich zurückgebliebenen Völker in Angriff genommen werden. Hunderte von Jahren haben solche Völker unter unvorstellbarem Elend gelitten, ohne daß die für ihr Schicksal verantwortlichen Kolonialmächte an viel mehr als die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und an die Sicherung der Ausbeutung der Naturschätze dieser Völker gedacht hätten. Das kommunistische Interesse für diese Völker hat die übrige Welt zu rascherem Denken und willigerer Hilfsbereitschaft veranlaßt. Fast kann man sagen, daß in jedem der letzten Jahre so viel geschehen ist, wie früher in jedem Jahrhundert. Vielleicht braucht die menschliche Natur den Stachel der Gefahr und der Bedrohung, um sich klar zu werden, was das soziale Gewissen von ihr fordert, um sich aufzuraffen, diesen Forderungen zu entsprechen. Ja, es darf geradezu als eines der Gesetze der Menschheitsgeschichte bezeichnet werden, daß jeder Schritt in der Entwicklung des sittlichen und rechtlichen Bewußtseins der Menschheit fast nur unter dem Druck solcher Bedrohungen oder auch Vergewaltigungen der sozialen Existenz des Menschen erfolgte. Wenn heute im internationalen Bereich klar gesehen wird, daß den ideologischen Spannungen und den daraus erwachsenden Gefahren weder mit bloßer Rhetorik noch mit physischer Gewalt begegnet werden kann, sondern nur durch einen Fortschritt des sozialen Verantwortungsbewußtseins und durch Erfüllung der damit sich anzeigenden Aufgaben, nämlich durch eine weltweite Sozialpolitik und Sozialreform für die bisher ausgebeuteten Völker, dann ist es eben, weil das soziale Gewissen, das hinsichtlich des Elends vieler Kolonialvölker so lange Zeit schwieg, brutaler Anstöße bedarf, um es für seine Aufgaben aufzuwecken und wachzuhalten.

Wenn wir von der Notwendigkeit solcher Anstöße in der Entwicklung des sozialen Gewissens sprechen, wollen wir die Wirkung der Ideen und Einsichten der großen Lehrer der Menschheit im Bereich des Sittlichen gewiß nicht unterschätzen. Namentlich sollen nicht die Kräfte des Christentums vergessen werden, die die in Frage stehende Entwicklung des sittlichen Gewissens vorbereiteten und erst ermöglichten, mag auch heute die Neuerweckung dieser Kräfte zu gelebter Wirklichkeit in den Völkern selbst eine der großen Sorgen und Hoffnungen des leidvollen weltgeschichtlichen Advents dieses Jahrhunderts sein. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Audi darauf nicht, daß heute trotz der verwirrenden Wirklichkeit unserer sozialen Existenz sich in Wirtschaft, Staat und Völkergemeinschaff doch schon nach allen Seiten die Richtungen deutlich abzeichnen, in denen die Lösungen zu suchen sind. Vielleicht darf ich darauf hinweisen, daß ich versuche, in einem demnächst erscheinenden Buche, „Widersprüche in der menschlichen Existenz“, diese Richtungen sichtbar zu machen auf Grund der in der heutigen Kulturkrise hervortretenden Tatsachen, Verhängnisse und Hoffnungen. An einem Beispiel soll indessen hier noch gezeigt werden, wie unser Jahrhundert gerade von der sozialen Existenz des Menschen her als weltgeschichtlicher Advent gesehen werden muß und wie der hundertprozentige Pessimismus in der heutigen Situation der Menschheit so unrealistisch ist, wie es der hundertprozentige Optimismus des vorigen Jahrhunderts war.

Nur ein Denken in langen Zeiträumen kann der Situation der menschlichen Existenz in sozialer Hinsicht gerecht werden. Vielleicht braucht es auch im internationalen Bereich wieder hundert Jahre, bis die Welt so völlig umgestaltet wird, wie die europäischen Gesellschaften seit einem Jahrhundert. Denn auch in diesem war es die Gewalt sozialer Spannungen, von der der wesentliche Anstoß ausging, unter dem sich das Gesicht der Laissez-faire-Gesellschaft und des ihr eigenen Kapitalismus völlig verändert hat, so sehr, daß heute der Kapitalismus ein ganz anderer ist als der, von dem etwa Marx in seiner Kapitalismuskritik ausging. Vor ungefähr hundert Jahren schrieb Engels in seiner bekannten Anklageschrift „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ (1848): „Die Voraussage ist nirgends so leicht als in England, wo alle Bestandteile der Gesellschaft so klar umrissen und scharf getrennt sind. Die Revolution muß kommen.“ Dazu bemerkt Halevy in seiner großen „Geschichte Englands im 19. Jahrhundert“, daß nichts klarer die Irrigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung beweise, als die Gegenüberstellung der tatsächlichen Entwicklung Englands und der Voraussage Engels, da in keinem Lande Europas die sozialen Wandlungen, fern von aller Revolution, mit so betonter Kontinuität vor sich gingen wie in England. Nichts kennzeichnet klarer die hier in Frage stehende Dynamik in der sozialen Existenz des Menschen, als daß diese ganze Entwicklung im völligen Gegensatz zu den Entwicklungsgesetzen des Kapitalismus vor sich ging, wie sie für Marx dogmatisch feststanden. Um nur dies zu erwähnen: Marx wollte die Arbeiterschaft überzeugen, daß ihr Weg in die sozialistische Zukunft durch die äußerste Verelendung gehen müsse.

Nach zwei Seiten erwiesen sich die positiven Kräfte in der menschlichen Natur stärker, als es nach der Marxschen Lehre vom Menschen und der Gesellschaft möglich schien. Erstens: in der liberalistischen Gesellschaft selbst erwachte unter dem Druck der drohenden Gefahr das soziale Gewissen für die Aufgaben der Sozialpolitik. Zweitens: die Arbeiterschaft hat nicht untätig der angeblich zwangsläufigen Ausdehnung ihrer Verelendung zugesehen, sondern hat sich in den Gewerkschaften zur Regelung des Arbeitsmarktes organisiert und sich so durch Selbsthilfe einen ständig steigenden Lebensstandard gesichert. Noch eine ganze Reihe anderer ordnender Faktoren hat sich gegenüber der „Anarchie“ der Konkurrenzwirtschaft, die Marx in seiner Kritik vor Augen hatte, durchgesetzt, man denke nur an die städtischen Konsumgenossenschaften, an die bäuerlichen Produktions- und Absatzgenossenschaften, an das gewerbliche Genossenschaftsund Innungswesen, an die soziale Be-trfebspolitik. Das alles will natürlich nicht besagen, wie herrlich weit wir es gebracht haben, sondern nur, daß die Entwicklung des sozialen Gewissens unleugbar ist. Kein Zweifel, es wird noch schwerer und langer Anstrengungen bedürfen, bis es zu einer Wirtschafts- und Sozialordnung kommt, die endlich die soziale Frage des Kapitalismus lösen wird. Denn im Grunde ist diese noch ungelöst. Aber auch in dieser Hinsicht ist es recht, einmal die Dinge in weltgeschichtlicher Perspektive zu sehen und sich den weltgeschichtlichen Advent zu vergegenwärtigen, den wir durchleben und durchleiden, der aber auch nicht ohne Verheißung und ohne Hoffnung ist.

Die Tatsache freilich, die schmerzlich gewisse, daß wir noch mitten auf dem Wege sind und noch weit vom Ziel einer Ordnung im wirtschaftlich-sozialen Leben und des Friedens im internationalen und daß die endgültige Entscheidung über die Zukunft noch bevorsteht, gibt auch dem Advent dieses Jahres wie sicher noch dem vieler kommender Jahre seinen ganz besonderen Sinn: uns für die glückliche Wende des weltgeschichtlichen Advents des größten Ausmaßes von Kräften aus jener Wirklichkeit zu versichern, in die wir uns in jedem Advent neu und tiefer hineinleben sollen.

Der Autor ist - neben Oswald von Nell-Breuning - Begründer der Katholischen Soziallehre.

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