Wenn es das Christentum nicht gegeben hätte ...

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Zweitausend Jahre schon existiert das Christentum. Was hat diese lange Periode der Welt gebracht? Nach den schrecklichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sieht es nicht unbedingt so aus, als hätte die Botschaft des Jesus von Nazaret die Menschheit humanisiert. Doch die Frage kann umgedreht werden: Was wäre anders, wenn es das Christentum nicht gäbe?

Dieser umfassenden Aufgabe stellt sich der ehemalige Inhaber des Romano-Guardini-Lehrstuhls an der Universität München, Hans Maier. Sein als Taschenbuch erschienener Essay "Welt ohne Christentum - Was wäre anders?" hat zwei Teile: Zunächst werden in sechs Kapiteln "Spuren des Christentums" in der Geschichte freigelegt - in bezug auf Menschenbild, Zeit, Arbeit, Natur, Staat und Künste.

Der Autor zeichnet ein Bild des Zusammenhangs von Evangelium und Welt, Kirche und Kultur, Glaube und Geschichte als "Spiel der Interaktionen", welches mit Schlagworten wie Christianisierung und Säkularisierung nicht ausreichend begriffen wird. Das Christentum ist eine Religion der Inkulturation, aber es ist immer offen, wo die Entwicklung hinter dem Anspruch zurückbleibt, und wo sie ihn überholt.

Besonders aktuell erscheint angesichts der Debatte um Verkürzung der Arbeitszeit, Sonntagsarbeit, Freizeitkultur oder -unkultur, apokalyptisches Ende das Kapitel über die Zeit.

Die Zeit, christlich als Frist verstanden, vom Schöpfer gewährt, läßt keine Revision zu. Darum ist Geschichte nicht umkehrbar und persönliche Verantwortung so groß. Weil der Glaubende im "Ewigen", in jenem Gott verankert ist, der das Heil schon gewirkt hat, hat er eine paradoxe Freiheit im Umgang mit der Zeit (die heute sichtlich verlorengeht, trotz "Zeitmanagement"): eine Gelassenheit, die im Fest gipfelt. Vom 13. bis 17. Jahrhundert, weiß Maier, machten Sonn- und Feiertage, Heiligenfeste und Wallfahrten etwa ein Drittel des Jahres aus.

Historisch zeigt Maier, wie das Christentum die Zeitrhythmen und Zeitmessung prägte, während es "schwerer" wurde: tiefer in die Verhältnisse der Welt und in die Zeit einsank.

Der wesentlich kürzere zweite Teil stellt sich ausdrücklich der Titelfrage - und läßt sie im wesentlichen offen. Der historische Überblick ist mehr die Stärke Maiers als die visionäre Schau eines George Orwell oder Aldous Huxley oder der Prophetismus Nietzsches. So faßt der zweite Teil zunächst die Ergebnisse des ersten zusammen.

Während die Tradierungskrise des Glaubens, neue religiöse Bewegungen und die Totalitarismen unseres Jahrhunderts beschrieben werden, wird allerdings aus der Gegenwart bereits erkennbar, welche Verluste und Gefahren eine Entchristlichung des Abendlandes bringen dürfte. Vielleicht ist die historische Besinnung, wie sie Maier anbietet gut für das Ende des Jahres 1999: Denn auch die Zeitgenossen sind Mitspieler im Drama der Geschichte, in die das Christentum seit 2000 Jahren verwoben ist - und "der Ausgang des Spiels bleibt offen, solange die Geschichte andauert."

Welt ohne Christentum - was wäre anders? Von Hans Maier. Verlag Herder, Freiburg 1999. 192 Seiten, TB, öS 130,-/e 9,45

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