Wenn "made in Italy" direkt aus China kommt

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"Man muss Beziehungen haben, aber keine Skrupel, und die Gesetze kennen, aber nicht achten."

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"Man muss Beziehungen haben, aber keine Skrupel, und die Gesetze kennen, aber nicht achten."

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Fünf Jahre lang reiste der Journalist Jan-Philipp Sendker für die deutsche Wochen-Illustrierte "Stern" durch China und berichtete in ausführlichen Reportagen über die zaghafte Öffnung des Landes. Nun liegt ein Buch von ihm vor, in dem er zwölf Chinesen porträtiert, die in einer Gesellschaft zu überleben versuchen, "an der Widersprüche das einzig Konstante sind". Aus unterschiedlichen Regionen und verschiedenen sozialen Schichten kommend, erzählen sie von den rasanten Entwicklungen in diesem riesigen Land, das Sendker fasziniert, und dessen Menschen, selbst den ärmsten und einfachsten, sich der Autor mit großem Respekt nähert.

Wu, der Anwalt, führt einen unermüdlichen Kampf gegen das korrupte Rechtssystem, das sich nur langsam aus der jahrelangen "Rechtssprechung" der Kommunistischen Partei zu einem echten Rechtssystem entwickelt. Schauprozesse gegen Regimekritiker, politische Einflussnahme auf die Richter und Bestechung gehören zur Tagesordnung in China, und noch im Jahre 1998 wurden 1.700 Menschen hingerichtet. Nachdem nun auch ausländische Investoren Korruption und mangelnde Rechtssicherheit beklagen, gibt es Ansätze zur Veränderung. Öffentliche Verhandlungen, die im Fernsehen übertragen und von Juristen kommentiert werden, Rechthilfezentren und Berichte in Zeitungen über Justitzskandale sollen die Bevölkerung über ihre Rechte aufklären, doch Wu, der Anwalt, ist skeptisch. Denn ernst gemeinte Rechtsreformen bedeuten radikale politische Reformen, und noch immer stellt die Verfassung des Landes die Partei über das Gesetz. Eine Regelung, die von den Kommunisten verteidigt wird. "Was nützen außerdem neue Gesetze, wenn das Denken das alte bleibt," klagt Wu, der auf seine Kritik, wenn seine Mandanten beim Verhör geschlagen werden, zu hören bekommt: "Wie sonst sollen wir zu einem Geständnis kommen?"

Xiao Ming ist der Sohn armer Stahlarbeiter. Heute fährt er einen Mercedes 600, S-Klasse, und lebt mit italienischen Designermöbeln. Mit Hilfe "außerordentlich hilfsbereiter Behörden" hat er innerhalb kürzester Zeit ein Bekleidungs-Imperium aufgebaut, in dem Hemden, Hosen und Sakkos für Italien gefertigt werden, die sich auch in China zunehmend gut verkaufen. Seinen Angestellten zahlt er das Dreifache ihres früheren Einkommens, dafür verlangt er die doppelte Leistung. Krankenversicherung und Kündigungsschutz gibt es nicht, wer schlampig näht oder faulenzt, fliegt. So, wie er sich selbst als "schneller, klüger, fleißiger und deshalb reicher" beschreibt, will er auch nur fleißige, leistungsfähige Menschen in seinem Betrieb. Einige sind damit beschäftigt, tagtäglich "made in italy"-Etiketten in die Kleidungsstücke zu nähen. Über Politik spricht Xiao Ming nicht, seinen Reichtum trägt er inmitten von Armenvierteln gerne zur Schau und für wohltätige Aktionen der Buddhisten spendet er großzügig. Da es keine staatliche Sozialhilfe gibt, sind die früher jahrelang inhaftierten Vertreter kirchlicher Organisationen die einzigen, die sich der Armen annehmen. Protestanten, Muslime und Katholiken sammeln ebenso wie die Buddhisten bei den Privatunternehmern, die ihre Spenden am liebsten vor Reportern an die bedürftigen Mütter kranker Kinder übergeben. Für seine eigenen Kinder hat Xiao zur Sicherheit längst ein amerikanisches Visum besorgt, sie sollen dort eine solide Ausbildung erhalten, außerdem misstraut er als gelernter Chinese den politischen Rahmenbedingungen.

Zum Heer der fast 100 Millionen Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter gehört Zhang Rong, die das chinesische Wirtschaftswunder von der anderen Seite kennt. Sieben Tage in der Woche hat sie in Zwölf-Stunden-Schichten in einer Keksfabrik gearbeitet, bevor sie wie viele junge Mädchen nach Peking gegangen ist, um mehr zu verdienen. Jetzt lebt sie in einem kleinen Verschlag mit vier anderen Kellnerinnen und hofft nach einigen schlechten Erfahrungen, erstmals für ihre Arbeit auch das versprochene Geld zu erhalten. Ohne Arbeitspapiere sind die Wanderarbeiter der Willkür ihrer Dienstgeber ausgeliefert, es gibt für sie keine Gewerkschaft und keine Rechtshilfe, wenn sie um ihren Lohn betrogen werden. Wie ihre fünf Schwestern schickt sie das Verdiente den Eltern nach Hause, die ihren Töchtern einen Wohlstand verdanken, um den sie alle im Dorf beneiden. Immer gibt es Fleisch zu essen, einen Farbfernseher mit CD-Anlage haben sie, und im kommenden Jahr will der Vater ein Telefon kaufen. Wie seine Töchter ihr Geld verdienen, weiß er nicht, aber er glaubt, dass "es besser ist in der Stadt". Während Rong nach einigem Zögern in einen Nachtklub gewechselt hat, weil das die einträglichste Geldquelle für junge Mädchen darstellt, sorgt sich der Vater im Dorf, wann seine Töchter endlich heiraten werden.

Pater Gregorie, der katholische Priester, dem die Behörden immer wieder Prügel antragen, weil er sich für die armen Dorfleute und ihre Rechte einsetzt, Wei Yongchen, die von der radikalen "Revolutionärin" zur intellektuellen Dissidentin wurde, Zeng Min, die im Hotel auf alleinreisende Geschäftsleute wartet, um ihnen "Massage" anzubieten, oder der kritische Journalist Lu Yuegang, der durch das Leben mit armen Bauern vom begeisterten Mao-Anhänger zum kritischen Intellektuellen wurde: Die knappen Porträts von Jan-Philipp Sendker beleuchten interessante wie beängstigende Details aus dem Leben der Chinesen und machen deutlich, dass die rasanten Veränderungen nicht mehr aufzuhalten sind.

Mit der Öffnung zur Marktwirtschaft ohne gleichzeitige politische Entwicklung werden unweigerlich viele Millionen in Armut und Hoffnungslosigkeit zurückbleiben. Im anonymen riesigen Hoffnungsmarkt China, von dem in europäischen Medien die Rede ist, macht Sendker die Menschen sichtbar, die ihren kargen Lebensunterhalt damit verdienen, für unsere Märkte Überflussprodukte wie Plüschtiere und Billig-Textilien zu produzieren, und die Menschen, die für Gerechtigkeit, Religionsfreiheit und die Würde ihrer Mitbürger kämpfen. Sie alle hoffen auf demokratische Veränderungen, unabhängige Rechtssprechung und freie Medien und bedürfen respektvoller, politisch kluger, regional unterschiedlicher westlicher Unterstützung.

Das Buch dokumentiert den Ideenreichtum und Überlebenswillen von Menschen in einem Land, in dem das Vertrauen in die Politik so oft missbraucht wurde, dass es sich schlichtweg aufgelöst hat. "Heute muss man Beziehungen haben, aber keine Skrupel. Die Gesetze kennen, aber nicht achten", sagt die Tochter von Familie Jia, die Modedesignerin in Paris werden will und als Model dreimal mehr verdient, als ihr Vater nach dreißig Jahren Arbeit in der Gummifabrik.

Risse in der grossen Mauer. Gesichter eines neuen China. Von Jan-Philipp Sendker Karl Blessing Verlag, München 2000. 220 Seiten, geb., öS 255,-/e 18,53

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