Werden die Christen Fremde in Europa?

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Zum Dossier Im November beleuchtete der Theologe Jozef Niewiadomski in der Furche (46/99) die Neue Rechte; er konstatierte ein Erstarken heidnischer Werte. Im vorliegenden Dossier wird Niewiadomski grundsätzlicher: Neues Heidentum hat nicht nur mit dem Aufstieg der Rechten zu tun, sondern dringt an vielen Stellen in die Gesellschaft ein. Hier gilt klar zu benennen, daß Heidentum und Menschenrechte unvereinbar sind (Seite 14). Wie es diesbezüglich um die Jugend steht, analysiert Religionspädagogin Ilse Kögler (Seite 15). Dem vorausgestellt ist die drängende Frage, ob die Christen in Europa Fremde geworden sind. Der Kärntner Bischof Egon Kapellari antwortet darauf mit christlichem Optimismus (unten).

Die bisherige Kirchengeschichte Europas war seit Kaiser Konstantin im großen und ganzen eine Zeit der großen Synthesen zwischen Kirche und Kultur. Kirche wurde zur Volkskirche, fast alle Bürger des Staates waren getauft, wenngleich die religiöse Praxis recht unterschiedlich war. Große Abbrüche von dieser Volkskirche gab es erst im 20. Jahrhundert. Die Theoretiker des Kommunismus prognostizierten ein Absterben der Religion überhaupt. Indessen ist auch der Kommunismus tot, und Religion im weitesten Sinn dieses Wortes erscheint weltweit wieder sehr lebendig.

Diese Renaissance des Religiösen geht aber in den deutschsprachigen Ländern vorerst weitgehend an der Kirche vorbei. Es zielt oft nicht auf ein göttliches "Du", sondern begnügt sich - wie im "New Age"-Syndrom - mit einem göttlichen "Es". Man benennt das Phänomen der Schwächung kirchlicher Religiosität mit dem Wort "Säkularisierung". Es resultiert nicht zuletzt daraus, daß in unseren Ländern die "Einübung ins Christentum" - in seine Lehre, seine Lebensregeln und zumal in die Liturgie - seit mindestens zwei Generationen von vielen Familien anderen Instanzen wie dem Religionsunterricht überlassen wird, die dabei überfordert sind. Die Medien fördern diesen Prozeß, indem sie breit über Kontroversen betreffend die Kirchenverfassung berichten, der kirchlichen Glaubenslehre aber verschwindend wenig Raum geben.

Europa unser Der 1983 verstorbene Kulturphilosoph Friedrich Heer, ein schwieriger Sohn der Kirche, hat einem seiner Essays den Titel "Europa unser" gegeben. Ich denke, Christen in Europa sollten diesen Titel als ein Element ihres spirituellen Programms übernehmen: Es gibt nach zwei Jahrtausenden christlicher Geschichte keine biblische Rechtfertigung, sich in Europa auf eine Kirche als "kleine Herde" zurückziehen in der bloßen Hoffnung auf eine neue Vitalität der Kirche in Afrika, Südamerika oder Asien.

Der politische Defätismus betreffend Europa als eine "Alte Welt", die scheinbar unaufhebbar in zwei Machtblöcke gespalten war, ist durch das Projekt "Europäische Einigung" an seiner Wurzel getroffen und umgekehrt worden, auch wenn dieses Projekt von Rückschlägen bedroht ist. Es wäre schlimm, wenn diesem politischen Defätismus ein kirchlicher Defätismus folgen würde, weil das katholische Milieu weithin in Umformung oder Auflösung begriffen ist.

"Man muß sich rühren", hat Hans Urs von Balthasar nicht lange vor seinem Tod gesagt und so ein Wort von Goethe auf die Situation der heutigen Christen angewendet. Gewiß: Die Zahl der Christen wird in vielen Ländern Europas geringer. Der Katholikenanteil an der Bevölkerung Wiens bewegt sich unter die 50-Prozentmarke - wegen der geringen Zahl der Geburten bei der katholischen Bevölkerung und der hohen Geburtenrate bei den Immigranten. Erst in zweiter Linie sind Kirchenaustritte die Ursache des Katholikenschwundes. Die Zahl jener Katholiken, die in Österreich regelmäßig am Gottesdienst teilnehmen, hat die Marke "1 Million" unterschritten.

Obwohl hierzulande weiterhin keine Gemeinschaft auch nur annähernd so viele Menschen von Woche zu Woche versammelt, waren die Meldungen darüber nicht frei von Schadenfreude. Man beachtete nicht, daß angesichts gewachsener Mobilität und Unverbindlichkeit in der Gesellschaft die Zahl der regelmäßigen Kirchgänger nicht mehr ein klassischer Parameter für die Vitalität einer Kirche sein kann. Freilich ist der Anteil der Jugendlichen an dieser runden Million von Kirchgängern gering, und dies gibt zu großer Sorge Anlaß.

Was tun?

1. Kein freiwilliger Rückzug in ein Ghetto: Katholisch sein heißt, sich für das Ganze der Welt und der Weltkirche mitverantwortlich wissen. Das heißt einerseits, in der Gesellschaft direkt mitgestalten, und andererseits, in Gottesdienst und Gebet stellvertretend die ganze Menschheit und ihre Welt vor Gott bringen. Auch eine zahlenmäßig kleiner gewordene Ortskirche ist nicht dazu verurteilt, einer Sekte ähnlich zu sein, weil sie ja Teil der katholischen Weltkirche ist, die inmitten der Gesamtchristenheit geprägt ist vom Willen zur katholischen Synthese auch im vielgestaltigen Bereich der Lebenskultur wie der Hochkultur, vom Willen zur Ausprägung von christlicher Gestalt in Konsequenz der Menschwerdung Gottes in Welt und Geschichte hinein.

2. Verstärkte Einübung ins Christentum: Das Prinzip Einübung, wie es etwa dem orthodoxen Judentum und dem Islam selbstverständlich ist, hat in der katholischen Kirche derzeit geringen Stellenwert. Ein Kult der Spontaneität hat sich etabliert. Üben, Einüben, das in Sport und Musik unbestritten ist, wurde und wird im religiösen Bereich weithin als entbehrlich empfunden. Das wirkt sich auf das Glaubenswissen wie auf die Glaubenspraxis - beispielsweise im Bereich der Liturgie und bezogen auf die Ausprägung von Tugenden, die durch keine Modernisierung entbehrlich werden - negativ aus.

3. Denken ist Pflicht: Eine Synthese von Hirn, Herz und Hand ist ein zutiefst katholisches Desiderat. Es gibt gewiß auch heute kopflastige Christen. Andererseits leidet die Kirche aber auch daran, daß manche Position betreffend eine Kirchen- und eine Gesellschaftsreform nicht zu Ende gedacht ist. Idealismus ohne Sachkompetenz ist nicht hilfreich. Ein Beispiel: Es genügt nicht, aus genuin menschlichen und christlichen Motiven Partei für Asylanten oder Immigranten zu ergreifen, ohne zugleich Modelle dafür zu entwickeln, die bewirken, daß in Großstadtschulen mit einem dominierenden Anteil an ausländischen Schülern etwa durch Beistellung von Assistenzlehrern eine auch für österreichische Kinder und deren Eltern hilfreichere Situation geschaffen wird.

4. Allianzen suchen: Der Übergang ins 21. Jahrhundert ist auch eine Zeit intensivierter Ökumene. Es kann hier nicht um die Preisgabe katholischer oder protestantischer Identität gehen. Ein gestaltloses ökumenisches Christentum als eine Art dritter Konfession wäre keine Alternative zur Unverbindlichkeit der sogenannten "Neuen Religiosität" und auch nicht zum selbstbewußten Islam, der noch viele Fragen aufgeben wird. Ökumene kann auch in einem weiteren Wortsinn verstanden werden als Versuch zur Kooperation der Christen mit allen Menschen guten Willens im Dienst der gesamten Menschheit. Eine Kirche, die Allianzen in diesem Sinn von Ökumene sucht, wird den dazu bereiten gesellschaftlichen Kräften und den Medien signalisieren: Kritisiert uns, wenn euch dies notwendig erscheint, aber seid fair und laßt uns für das Gemeinwohl arbeiten. Die Ressourcen an Humanität in unserer Gesellschaft sind nicht so groß, daß man auf den Dienst der Kirche verzichten könnte.

5. Missionarisch bleiben: Der Apostel Paulus hat in einem seiner Briefe bekannt: "Ein Zwang liegt auf mir. Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht verkünde." Das ist ein Dauerauftrag an die Kirche. Wer eine ihn verwandelnde Begegnung mit Gott, mit Christus und mit einer authentisch christlichen Gemeinschaft erlebt hat, der will diese Erfahrung mit anderen teilen. Er wird dazu seine ganze Phantasie aufbieten, aber jede Art von Zwang oder List vermeiden müssen, weil er sonst seine Botschaft entehrt. Jedenfalls wird er sich nicht mit einer verbürgerlichten Religiosität begnügen können, die einem Ofen gleicht, der allein sich selbst wärmt. "Zeige uns Jesus", haben nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums heidnische Griechen zu den Jüngern Christi gesagt. Die heutigen Jünger Christi sind im Dialog der Weltreligionen nicht davon entpflichtet, auch dem Judentum und dem Islam Christus zu zeigen, freilich auf jene friedvolle Weise, die der heilige Franz von Assisi dafür gewählt hat.

Christen sind Doppelbürger: Sie gehören zur Erde und verstehen sich zugleich als Pilger zu einem Zustand endgültiger Reife, den wir biblisch-theologisch Himmel nennen. Diese doppelte Bindung verpflichtet, das Irdische als Medium der Reifung höchst ernst zu nehmen, aber sich nicht so daran zu klammern, als ob es nichts Größeres gebe als die "Gestalt der Welt", die ja vorübergeht, wie Paulus gesagt hat.

Der Autor ist Bischof von Gurk-Klagenfurt.

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