West-östliche Kuchlkredenz

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Eine Vielvölkerküche in bester Tradition der "Wiener Küche" - das könnte eine der sympathischen Nebenwirkungen der EU-Erweiterung sein.

Essen und Trinken - das ist immer auch Sehnsucht. Es ist ein ungezügeltes Verlangen nach den Geschmäckern und Düften der Kindheit, nach Gerichten, deren Rezepte nur noch unseren Großmüttern geläufig waren und die in unserem Küchenalltag oft längst in Vergessenheit geraten sind.

Je internationaler und auswechselbarer unsere tägliche Ernährung wird, desto deutlicher wird uns daher der Bruch bewusst, der unsere Esskultur von jener unserer Vorfahren trennt. Es erwacht aber auch ein Gefühl der Neugier, das immer mehr Genießer dazu treibt, sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit und ihren unvergesslichen Aromen zu begeben.

Das 20. Jahrhundert hat gerade in Mittel- und Osteuropa viel dazu getan, dass kulturelle und kulinarische Kontinuitäten, die oft in Jahrhunderten gewachsen sind, durch das Zeitgeschehen plötzlich auf brutale Weise gekappt wurden und wohl nie mehr völlig zu ihrer ursprünglichen Harmonie zusammenfinden werden. Die ostjüdische Küche beispielsweise wurde durch den Nationalsozialismus ihrer angestammten Heimat beraubt und hat außer in Kochbüchern nur noch im Exil an der amerikanischen Ostküste und in Israel überlebt. Die Wiener Küche wiederum wurde durch den Eisernen Vorhang um viele ihrer panslawischen Wurzeln und durch den weitgehenden Verlust des Kontaktes zur böhmischen, ungarischen, polnischen und Balkanküche um einen wesentlichen Teil ihrer Identität gebracht.

Erst die "samtene Revolution" des Jahres 1989 und der Fall des Eisernen Vorhangs eröffneten auch in kulinarischer Hinsicht die Möglichkeit, sich wiederum auf den langen Marsch back to the roots zu begeben. Die erste Bestandsaufnahme der sogenannten "Ostküchen" fiel indessen nur selten zufriedenstellend aus, und es bedurfte entweder eines veritablen pfadfinderischen Instinkts oder beträchtlicher Phantasie, um in den Ländern des ehemaligen Warschauer Pakts vergessene Paradiese für Genießer zu entdecken.

Echt böhmisch?

Wie denn auch? Wo seit Jahrzehnten ein oft eklatanter Mangel an hochwertigen Grundprodukten herrschte, dort konnte an die großen Traditionen der böhmischen, ungarischen oder polnischen Küche kaum angeschlossen werden, schon gar nicht in einer Zeit, in der die meisten damit beschäftigt waren, sich mit dem Allernotwendigsten zu versorgen. Als der Wiener Meisterkoch Rudolf Kellner nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine Reise nach Tschechien unternahm, um dort einen "echten böhmischen Mehlspeiskoch" zu engagieren, kehrte er daher ohne neuen Pâtissier, dafür aber ziemlich deprimiert zurück: "Es gibt keine böhmische Küche mehr in Böhmen", erzählte er damals, "die bringen nicht einmal mehr g'scheite Powidltatschkerl z'samm." Mittlerweile hat sich das wieder geändert. Man kann in Prag, Budapest oder Warschau heute exzellent speisen. Die Köche orientieren sich dabei stilistisch allerdings eher nach Westen. Die schlechteren versorgen sich ausgiebig mit Convenience-Food, die guten blinzeln so neidvoll wie neugierig in die Top-Küchen der USA, Frankreichs oder Großbritanniens. Dafür scheinen viele von ihnen jegliches Interesse an Omas Kochtopf verloren zu haben.

Doch alles ist relativ: Vom Westen aus gesehen liegen Länder wie Polen, Tschechien, Slowakei oder Ungarn gewiss im Osten, sie selbst bezeichnen sich jedoch - historisch wie auch topographisch völlig korrekt - als Mitte Europas, weshalb der Ausdruck "Mitteleuropa " (oder wie man international sagt: "Central Europe") zumindest für die westlichen Pufferstaaten des ehemaligen Warschauer Pakts durchaus berechtigt ist. Viele dieser Staaten verbindet eine gemeinsame Geschichte unter dem Wappen des Doppeladlers, der das versunkene "Vielvölkerreich" - das manchen auch als "Vielvölkerkerker" in schlechtester Erinnerung ist - zwischen Krakau, Lemberg, Prag, Bratislava, Budapest und Tschernowitz (zu) lange in fester Umklammerung hielt.

"Mongolendrüse"

Gemeinsam ist Mittel- und Osteuropa - neben starken und kulturell prägenden, aber mittlerweile auf marginale Spuren reduzierten jüdischen Minderheiten - auch die Zugehörigkeit zur slawischen Sprachfamilie (das der finnisch-ugrischen Sprachengruppe zugehörige Ungarn ist nur die Ausnahme von der Regel). In ihrer ethnischen Buntheit läßt sich die Vielzahl unterschiedlicher Völkerschaften immer noch am besten mit dem von Fritz von Herzmanovsky-Orlando geprägten und ursprünglich auf die Vielvölkerstadt Wien gemünzten Begriff von der "Mongolendrüse Europas" beschreiben. Denn während die österreichische Prägung, sowohl was Architektur als auch was Küchendüfte betrifft, bis tief in die Ukraine hinein spürbar ist, so lässt sich der Einfluss der asiatischen Reitervölker und der Türken, die sich speziell im Donauraum breit machten, ebensowenig verleugnen.

Auch wenn viele Traditionen der - sogenannten - Ostküchen im 20. Jahrhundert verwässert oder vergessen wurden, so besteht immer noch die Chance einer Bestandsaufnahme. Etwas verallgemeinernd könnte man behaupten, dass sich die Küchen unserer östlichen Nachbarn zu Beginn der neunziger Jahre auf einem Niveau befanden, das jenem der österreichischen Nachkriegsküche in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entsprach. Doch haben gerade diese verirrten Küchenmoden der fünfziger und sechziger Jahre (Stichwort Hawaii-Steak) die Voraussetzung für jene Entwicklung geschaffen, die man heute mit Recht als "Renaissance der österreichischen Küche" betrachtet. Der Umweg zu einer Wiederentdeckung des Regionalen lief hierzulande über die Neuentdeckung der Techniken der französischen Nouvelle Cuisine, die zunächst mit allen ihren Kuriositäten und Auswüchsen "inhaliert" wurde. In den Ostküchen passiert zur Zeit Ähnliches. Dort herrscht eine schmeckbare "vorauseilende Anpassung" an die Moden des "Westens", vor allem an jene der euro-amerikano-asiatischen "Fusionsküche". Kein Wunder: Seit in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten wieder die Freizügigkeit des Reisens herrscht, kommen die Köche herum und bringen nach Hause, was international im Trend liegt.

Da Trends und Moden kurzlebig sind, wird jedoch auch in den Ostküchen früher oder später das entdeckt werden, was mit einem Modewort als "das Autochthone" bezeichnet wird. Zum Teil ist diese Entwicklung auch schon in Gang - und sie wird sich mit der bevorstehenden EU-Osterweiterung noch verstärken.

Regional & global

Schließlich ist die Neu- oder Wiederentdeckung der eigenen kulinarischen Identität eine der - politisch betrachtet - immer noch harmlosesten Methoden, in Zeiten verordneter Vergemeinschaftung so etwas wie nationale Eigenständigkeit zu bewahren. Nicht zufällig war ja auch in Österreich die EU-Beitrittsdebatte vor allem von Themen wie der Blutschokolade, der Joghurtschildlaus und der bangen Frage bestimmt, ob wir nach dem Beitritt noch Marille, Paradeiser, Fisolen oder Schlagobers sagen dürfen. Es wird also wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen, dass sich die Ungarn den Begriff Gulyás, die Tschechen die Karlsbader Oblaten, die Slowenen ihren Prsut, die Polen ihren Bigós und die Slowaken ihren Liptovská bryndza (Liptauer Brimsen) von der EU-Kommission schützen lassen werden.

Es steht zu hoffen, dass derlei verständliche, aber letztlich unnötige Rückfälle in einen kulinarischen Nationalismus nur von kurzer Dauer sind und dann endlich wieder eine Entwicklung Platz greifen kann, die wir in Mitteleuropa ja schon einmal mit Erfolg durchgemacht haben: nämlich die Ausprägung einer Vielvölkerküche, die von vielerlei autochthonen Wurzeln gespeist und gerade dadurch außerordentlich schmackhaft wird. Der heute so viel strapazierte Begriff der "Fusionsküche" bedeutet im Grunde genommen ja auch nichts anderes, als dass Zutaten und Rezepte, die in einer bestimmten Region für jedermann verfügbar sind, nicht als Exponate nationaler Kochmuseen verstauben, sondern sich lebendig weiterentwickeln. Wer erinnert sich heute etwa noch daran, dass die Ungarn erst seit rund 200 Jahren mit Paprika kochen, dass die Pizza schon lange erfunden war, bevor die erste Tomate ihren Weg von Amerika nach Italien fand, dass zur Zeit Napoleons noch niemand wusste, was ein Erdäpfelpüree ist, oder dass ganz Europa bis zu den Kreuzzügen eine zuckerfreie Zone war?

Kochen war und ist die Kunst, funktionierende geschmackliche Harmonien zu bewahren und immer wieder neue zu finden, die ebenfalls funktionieren. So hat sich beispielsweise die allgemeine Reiselust in mediterrane Länder während der letzten Jahre auf den gesamteuropäischen Speiseplan, vor allem auf jenen des Nordens, stilbildend ausgewirkt. Unter diesem Aspekt ist auch die bevorstehende Osterweiterung eine Aufforderung, in Zukunft die fast vergessenen osteuropäischen Landesküchen und deren oft herrliche Traditionsgerichte neu zu entdecken (auch wenn man sie für unsere modernen Ernährungsgewohnheiten wohl da und dort auch etwas entschlacken muss).

Mit etwas kulinarischer Neugier und wachem Gaumen könnten auf diese Weise neue Standards für eine west-östliche Kuchlkredenz gesetzt werden, will heißen: für eine "europäische Küche", die, wie zu hoffen steht, eine ebenso schmackhafte "Vielvölkerküche" sein wird, wie es die "Wiener Küche" schon vor hundertfünfzig Jahren war.

Der Autor ist Gourmetkritiker und Kulturpublizist.

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