Wie hat so etwas passieren können?

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Ein Ausflug ans Ende der Dunkelheit.Na, wie war's in der Zukunft? Wie es wird, wenn es bleibt, wie es ist. Oder zumindest sein könnte.

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Ein Ausflug ans Ende der Dunkelheit.Na, wie war's in der Zukunft? Wie es wird, wenn es bleibt, wie es ist. Oder zumindest sein könnte.

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Plötzlich sind da wieder diese Bilder. Längst entsorgt geglaubt in den verstaubten Archiven des Vergessens. Durch eine einzige Frage wieder an die Oberfläche des Erinnerns gespült: "Wie hat so etwas passieren können?" Grausam, was Kinder alles wissen wollen. Neugierig steigen sie die Treppen in die Vergangenheit hinunter. Ohne Respekt; den hat die Zeit längst aufgefressen. Ohne Angst, die vom jugendlichen Wissensdrang verblasen wurde.

Ja, da war etwas passiert. Auch im anderen Sinne des Wortes: "passiert" - vorbeigegangen. An uns. Direkt vor unserer Haustüre, via Fernsehen mitten durch unsere Wohnzimmer. Durch unsere Geschichte, die damals noch unsere Gegenwart war. Menschen - vertrieben, ermordet, entwurzelt. Menschen - vom Leben vergewaltigt, ihrer Zukunft beraubt. Menschen vor dem Nichts.

Hoffnungslosigkeit anno 1999, in einem Europa der Zwischenzeit, dem die prägenden Konstellationen fehlten. Die Ratio der alten Ordnung galt nicht mehr. Das Ende des Blockkonflikts bedeutete zwar das Ende der Blöcke, nicht aber der Konflikte. Nur zeigte sich das Baumuster der neuen E(U)poche noch zu filigran, um in der dynamischen Dialektik von Integration und Souveränität belastbare Alternativen zur Statik des Kalten Krieges anzubieten. So hat es passieren können - das, wovon man überzeugt war, daß es nie wieder geschehen dürfe: Krieg.

"Warum habt ihr nichts dagegen unternommen?" bohrt sich die Kinderstimme noch weiter ins Bewältigtgeglaubte. Nichts? Sind Spendenmillionen nichts? Nein! Bei allem moralischen, finanziellen und rhetorischen Aufwand und einem geradezu hysterischen Anfall von Menschlichkeit: Heimat kann man nicht zurück-, Tote nicht lebendigspenden, für zerbombte Seelen gibt es kein Wiederaufbauprogramm.

Da war etwas passiert, vor unseren Augen; etwas, das Verstand und Herzen überforderte; etwas, gegen das man kein Anti-Virus-Programm installieren konnte: Ungezügelte Grausamkeit mit dem Ziel, alles, was der andere erfahren, geliebt, genossen und besessen hatte, zu zertrümmern. Zu vernichten. Auszulöschen. Die Hoffnung aus seinem Gesicht zu fegen, indem man ihm kurzerhand das Leben nimmt.

"Humanitäre Katastrophe" nannten es die Einerseits-andererseits-Kommentatoren, die wie ein Wanderzirkus mit ihren moralischen Waagschalen durch die Zeitungskolumnen zogen. Und fügten noch inhaltsschwanger das Wort "historisch" hinzu. Wahrscheinlich aus der Gewohnheit, alles, worunter sie sich eigentlich nichts Konkretes vorstellen konnten, historisch zu nennen.

An die "normalen" Katastrophen hatte man sich ohnehin schon gewöhnt, in einer Epoche, die von Musikantenstadl, Fußballdebakeln, Treibhausklima, Bischof Krenn, Mc Donalds und/also der allgemeinen Erwartung des Weltuntergangs geprägt war. Denn daß mit 31. Dezember 1999 Schluß sein würde, wußte seit Nostradamus jeder Depp. Und selbst Nicht-Deppen konzentrierten sich auf die Frage, ob das Ende plötzlich atomar oder langsam ökologisch kommt. Mit kataleptisch gekrümmtem Rückgrat saßen wir vor unserem Schicksal und harrten seiner Selbstzerstörung. Vieles wurde versprochen, von Reformstau und dringendem Handlungsbedarf gefaselt - nach dem Motto "Wörter sind dazu da, zu verbergen, daß man keine Ideen hat".

In einer Welt hektisch zuckender Fernsehbilder, in der die Zukunft egal und die Vergangenheit verklärt war, verweigerte man sich zudem der Einzigartigkeit der Gegenwart. Mag sein, daß die Unmöglichkeit zu Objektivität und Ernsthaftigkeit einer der letzten Schlupfwinkel aus einem Alltag blieb, in dem die Klage über die Verdummung der Jugend und die Unzulänglichkeit der Politik zum common sense gehörte.

"Aber ihr habt doch gewußt, wie was besser zu machen wäre ...", setzt die kindliche Neugier ihren Frontalangriff fort. Ja, doch es hatte sich leider gezeigt, daß die Einsparungen, die durch den technischen Fortschritt möglich wurden, sofort zu einer vermehrten menschlichen Aktivität führten. Mehr Konsum, mehr Produktion, mehr Mobilität, mehr Umweltbelastung. Immer mehr, immer größer, immer weiter. Auf diesem Weg zum Leben im Superlativismus trug man das Credo der Nachhaltigkeit wie eine Hostie vor sich her. Nur, wo ist der große Realisator geblieben? Wo sind die großmäuligen Tabubrecher, die quotengeilen Populisten und postmodernen Progressiv-Machos, die ultracoolen Spaßspezialisten und selbsternannten Wiederentdecker der wahren Werte? Allein ihre lauten Rufe nach "Taten statt Worte" erinnern wie ein Echo an die Zeit vor ihrer allmählichen Anpassung an das vielgeschmähte Establishment. Ob 68er oder 98er - die Evolution hat noch alle ihre Kinder gefressen.

Aber das Menschsein bleibt eben immer nur ein Versuch, Mensch zu werden, wobei die meisten ihre große Zukunft schon hinter sich haben. Und am Ende stehen wir vor unserer finsteren Vergangenheit, sind um ein paar Einsichten reicher und viele Illusionen ärmer.

Mit seinen Fragen will das Kind Licht in diese Dunkelheit bringen. Es will wissen, ob ihm "so etwas auch passieren kann", heute, fünfzig Jahre danach, im Juni anno 2049. Aus den Fehlern der Geschichte zu lernen, war noch keinem verboten.

Der Dritte Klaus Höfler, 1972 in Graz geboren, studiert an der dortigen Karl-Franzens-Universität Geographie und Medienkunde und ist daneben als freier Journalist tätig. Der Absolvent des zwölfwöchigen Kollegs für Journalistenausbildung publizierte bereits Beiträge in mehreren österreichischen Printmedien und ist Co-Autor des Buches "Hoh(l)es Haus - Zitate aus Nationalratssitzungen der letzten zehn Jahre".

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