Wie man die Briten UMARMT

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Wegen des drohenden Brexits beschloss ich, meine journalistische Unabhängigkeit über Bord zu werfen. Ein Erfahrungsbericht aus London.

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Wegen des drohenden Brexits beschloss ich, meine journalistische Unabhängigkeit über Bord zu werfen. Ein Erfahrungsbericht aus London.

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Der Brite in uns

Großbritannien stimmt am 23. Juni über einen EU-Austritt ab. Die EU-Frage spaltet das Land, auch wenn die Debatte seit der Ermordung der pro-europäischen Politikerin Jo Cox milder wurde. Doch was würde ein Brexit für den Bildungsund Kulturaustausch zwischen Kontinent und Insel bedeuten, was für die vielen Expatriates? Wir haben Experten und Betroffene auf beiden Seiten befragt. Redaktion: Sylvia Einöder

Sie trugen lila, weiß und grün. Die Farben der Sufragetten. Wen es wundern mag, dass die Abgeordneten im House of Commons im Westminster-Palast zur Gedenkstunde für eine ermordete Parlamentarierin am Montag in den Farben der frühen britischen Feministinnen auftauchten, der kannte Jo Cox schlecht. Schon zu ihrer Hochzeit trugen die Gäste diese Farben. Cox war eine flammende Feministin. Witwer Brendan stand mit den beiden kleinen Kindern oben auf der Gästetribüne und hörte zu, wie Premierminister David Cameron seine Frau als eine pries, die "das Leben der anderen erhellt hat". Das Land schien sich in Tränen aufzulösen.

Der Mord an der pro-europäischen Labour-Abgeordneten Jo Cox am 16. Juni hat die Kampagne zum EU-Referendum in den Tagen vor der Abstimmung am 23 Juni grundlegend verändert. In den vergangenen Wochen hatte sich die Debatte dramatisch zugespitzt. Statt mit feiner Klinge zu fechten, wie es sonst die britische Art ist, traten die Kontrahenten sich gegenseitig verbal mit Füßen. Der tragische Höhepunkt war die Erschießung von Jo Cox durch einen rechtsextremen Geisteskranken, nachdem er "Britannien zuerst" gerufen hatte.

Seelenforschung und Zukunftsängste

Seit dieser dunklen Stunde herrscht Seelenforschung im ganzen Land. Der Ton der "Vote Leave"-Kampagne ist entschärft. Nach den jüngsten Umfragen liegen Befürworter und Gegner eines Austritts aus der Europäischen Union aber weiter Kopf an Kopf. Zehn Prozent der stimmberechtigten Briten sind immer noch unentschlossen. Die wichtigste Entscheidung für Generationen steht an. Die Briten sind grundsätzlich nicht sehr europabegeistert. Auf der einen Seite stehen jene, die das Verhältnis ihres Landes zu Europa neu definieren wollen, weil sie sich von Brüssel überreguliert fühlen. Auf der anderen Seite finden sich die Pragmatiker, die Europa nicht lieben, aber denken, dass die Mitgliedschaft in einem Binnenmarkt von 500 Millionen Menschen nicht umsonst ist.

Die Aussicht, dass die Briten aus der EU austreten könnten, ging mir von Anfang an unter die Haut. Nicht nur, weil ich seit sechs Jahren in London lebe. Die EU ist mir als Österreicherin und Europäerin ein Anliegen. Bei allen Schwächen der EU bin ich von einem überzeugt: Es ist besser, wenn die Staatskanzleien über den Krümmungsgrad von Gurken verhandeln als wenn sie ihre Armeen gegeneinander hetzen. Die Briten, deren Inseln nicht wie der Kontinent jahrhundertelang ein einziges Schlachtfeld war, sehen die Friedenssicherung gelassen. Die euroskeptische Tendenz schien in Großbritannien seit Jahren geradezu stündlich zuzunehmen. Ganz gegen meine Gepflogenheit beschloss ich deshalb vor einem Jahr, mich in meiner Wahlheimat Britannien politisch zu engagieren.

Nach den britischen Parlamentswahlen im Mai trat meine Freundin Birgit Maass an mich heran: "Ich finde, wir sollten etwas tun, damit die Briten nicht austreten." Ich war sofort dabei. Die Herangehensweise an #hugabrit @pleasedontgouk (#Umarme einen Briten @Bitte trete nicht aus) wurde für uns zum Lehrstück für eine Kampagne in den sozialen Medien. Bei den ersten Abendessen luden wir Freunde und Bekannte ein, überlegten Strategien und legten Grundsteine: Der Ton sollte strikt positiv und die Botschaft so einfach und freundlich sein, dass sie keinesfalls als Einmischung von außen verstanden werden konnte. Wir mussten aber auch etwas Freches, Unkonventionelles finden, um Aufmerksamkeit zu erregen.

So entstand im Laufe des Herbstes die Idee zur Kampagne. Wir wollten die Briten bei ihrem Sinn für Humor packen und ihren Ruf testen, reserviert zu sein. Auf die Webseite www.pleasedontgouk.com luden wir Fotos von EU-Bürgern, die Briten umarmten. Dazu gab es jeweils eine Geschichte. Die Fotos wurden auf Facebook, Twitter und Instagram geladen und durch den Hashtag #hugabrit verlinkt. Die Idee war so einfach, dass alle mitmachen konnten. Wir wollten es uns zunutze machen, dass das Selfie die Hauptbeschäftigung der Teenager und Trittbrettfahrer geworden ist.

Im Laufe der Wochen hatten Birgit und ich mit allen gesprochen, die bereit waren, uns gratis zu beraten: ein ehemaliger Spin Doctor von Tony Blair; Kolumnisten in britischen Tageszeitungen; Historiker Timothy Garton Ash erbleichte, als ich ihn fragte, ob wir die Kampagne #LoveBlitz nennen sollten. In Anlehnung an "The Blitz", wie die Briten die Bombenkampagne der deutschen Wehrmacht auf britische Städte 1940 nannten. Wir einigten uns dann auf #hugabrit.

Nach den ersten Treffen kristallisierte sich eine kleine Gruppe heraus, die den Kern von #hugabrit darstellte: Katie Lock, eine deutsche Fotografin, Marianna Rosenfeld, eine italienische Kunstrestaurateurin, Rosa McNamara, eine irische Ärztin. Später dazu stießen die schwedische Marketingexpertin Amanda Ullman, Christine Ullmann, unsere Frau für soziale Medien, und Verena Enderle, die geniale Designerin, die in einerlangen Nacht das Logo für #hugabrit erfand. Paul Varga, ein österreichischer Erfinder, war der einzige Mann, der sich gleich für das unbezahlte Unternehmen begeisterte.

Im Winter begann #hugabrit Gestalt anzunehmen. Gleichzeitig wurde klar, dass die offiziellen britischen Kampagnen "Stronger In" und "Vote Leave" mit riesigen Budgets betrieben wurden. Die von Regierungschef David Cameron betriebene Pro-EU-Kampagne etwa produzierte eine Broschüre für umgerechnet 11,6 Millionen Euro, die durch jeden Postschlitz des Lands gesteckt wurde. Wir hatten kein Budget. Den Versuch proeuropäischer Gruppen, uns zu sponsern, lehnten wir ab. Keinesfalls wollten wir als bezahlte Agentinnen verunglimpft werden.

Die Launch-Party von #hugabrit wurde dafür privat von europäischen Weinhändlern und Restaurants in London gesponsert. Christian Malnik vom Café Kipferl brachte Mini-Schnitzel und andere österreichische Spezialitäten. Zum Fest am 21. April kamen viel mehr Leute, als wir erwartet hatten. Zwei Wochen vorher hatte #hugabrit in den sozialen Medien abgehoben. Tim Dowling hatte im Guardian über uns geschrieben

Fotos aus Thessaloniki, Oxford, Brüssel

Danach stand mein Telefon nicht mehr still. Ab Mitte April ergoss sich jeden Tag eine Flut an Interviewwünschen über unser kleines Grüppchen. Ich organisierte Hugins, zu denen wir Fernsehteams und Tageszeitungen einluden. 140 Artikel und Sendungen zählten wir Anfang Juni. El Pais, Le Monde, Wall Street Journal, Die Welt, BBC, CNN, ARD. In EU-skeptischen britischen Blättern wie The Sun, Daily mail und The Times wurde #hugabrit bescheinigt, zu "unbritisch" zu sein. Doch die Medienpräsenz wirkte: Jede einzelne Erwähnung von #hugabrit führte zu weiteren @pleasedontgouk-Fotos, die uns aus Oxford, Thessaloniki oder Brüssel geschickt wurden.

Bei einem Hug-in am Parliament Square vor Big Ben fragte mich ein Reporter von Barcelona TV, ob unser Konzept nicht "naiv" sei. "Die besten Dinge der Weltgeschichte entstehen aus Umarmungen", antwortete ich ihm. Dass die Briten sich nicht gerne umarmen lassen, hat sich jedenfalls in unserer Wahrnehmung nicht bestätigt . Birgit musste sogar live im BBCFrühstücksfernsehen den EU-phoben UKIP-Chef Nigel Farage umarmen, der dabei sanft errötete. #hugabrit hat in den letzten Monaten der bitteren, ja hasserfüllten britischen EU-Kampagne einen positiven Ton beigefügt. Gerade nach der Ermordung von Jo Cox ist diese Erkenntnis vielleicht die wichtigste: Wir dürfen Europa nicht den destruktiven Kräften überlassen. Ich kann nur hoffen, dass wir genug unentschlossene Briten überzeugt haben, gemeinsam für ein besseres Europa zu kämpfen.

Die Autorin schreibt seit 1991 für Profil, arbeitete als Nahost- und EU-Korrespondentin und lebt seit 2010 in London.

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