Wie soll man werten lernen?

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Vernunftbegründete Orientierungshilfen und weltanschauliche Pluralität müssen im Unterricht vermittelt werden.

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Vernunftbegründete Orientierungshilfen und weltanschauliche Pluralität müssen im Unterricht vermittelt werden.

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Die lang anhaltende Diskussionsverweigerung über die Einführung eines Unterrichtsgegenstandes "Ethik" im Regelschulwesen, das ausgeprägte Abblocken jedes Vorstoßes, ja selbst das von ÖVP-Klubobmann Andreas Khol in die jetzige Umdenkphase gerettete Argument, Ethik dürfe "keine Konkurrenz zum konfessionellen Religionsunterricht" darstellen, zeigt, daß es um mehr - für manche: anderes - geht, als um Werteerziehung und darum, moralische Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbewußtsein zu erlernen und zu erlangen: es geht um die Stellung der Kirchen in unserer Gesellschaft und es geht um das Verhältnis von Staat und Kirchen. Diese Systemfrage scheint vielen wichtiger als die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen.

Ich selbst halte den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schulen für das Wesentliche an dieser Debatte, bekenne mich aber durchaus auch zur Systemdiskussion. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, für eine klare Trennung zwischen Kirchen und Staat und für die Neutralität staatlicher Institutionen in Religionsfragen (nicht Werthaltungen!) einzutreten. Unser Schulsystem sieht eine derartige Trennung nicht wirklich vor: Zum einen sind Privatschulen, die von Religionsgemeinschaften geführt werden, anderen Privatschulen gegenüber privilegiert.

Zum anderen schreiben die Schulgesetze den Religionsunterricht als jenen einzigen Pflichtgegenstand fest, in dem lehrplanmäßig auch Haltungen vermittelt werden sollen - naturgemäß religiös motivierte. Gläubige, "im Glauben angefochtene" oder "sich als ungläubig betrachtende Schüler" sollen zum christlichen Leben und "aus dem Glauben zum verantwortlichen Handeln" motiviert und ermutigt werden, heißt es in einem Lehrplan für den katholischen Religionsunterricht. Fortsetzung des Prinzips "cuius regio, eius religio"? Nicht nur das: Hintergrund einer solchen Regelung ist vor allem, daß den Kirchen von konservativer Seite eine Monopol-Stellung in Sachen Wertefindung oder -stiftung unterstellt wird. Das ist die einzige Erklärung dafür, daß quasi der Untergang einer werteorientierten Gesellschaft befürchtet wird (haben wir sie überhaupt?), wenn der Pflichtgegenstand Religion abgeschafft würde. Die Religionen als die Wertespender seien unersetzlich, und daher wird auch als häufigstes Argument gegen einen Ethikunterricht eingebracht, daß dann keiner da sei, der die Richtigkeit der Werteskala vorgebe beziehungsweise daß sich der Staat in Gestalt seiner Lehrerinnen und Lehrer zum Wertestifter oder jedenfalls -zensor aufspiele.

Welches Menschenbild steht hier dahinter? Welche Vorstellung der Gesellschaft?

Wenn Gläubige so argumentieren, verstehe ich es. Jemand, für den der Wertemaßstab einzig gottgewollt und -gegeben ist, kann es nicht für richtig erachten, daß dieser auch in Frage gestellt wird und die Wertefindung auf individuelle Weise mit einem Ergebnis erfolgt, das in Widerspruch zu Glaubensfragen stehen kann. Dieser Argumentation halte ich entgegen, daß es nicht Sache des Staates sein kann, Glauben als Pflichtfach zu vermitteln, sehr wohl jedoch, dem Menschen Selbstfindung zu ermöglichen und ihn durch die Auseinandersetzung mit verschiedenen Ideologien, Meinungen, Religionen und Kulturen nicht nur zu Verständnis und Toleranz zu führen, sondern dazu, durch das Verstehen verschiedener Werte und Ordnungen seinen eigenen gesicherten Wertemaßstab zu entwickeln. Es ist meine Überzeugung, daß - unabhängig davon, daß der Mensch auch eine transzendente Dimension hat - die Prinzipien eines verantwortungsvollen Zusammenlebens von Menschen auf der Basis vernünftiger (und nicht nur glaubensmotivierter) Überlegungen bestimmt werden müssen. Die Antworten der Kirchen sind das eine. Die Kultur des Miteinander-Umgehens, das Leben in den verschiedenen Gemeinschaften, die Bewältigung von Generationskonflikten, das Gemeinwohl- und Solidaritätsprinzip als Gestaltungselemente in Staat und Gesellschaft sind jedoch Parameter, die auch ohne religiöse Orientierungspunkte für eine Gesellschaft unerläßlich sind.

"Ethik" ist die Lehre vom sittlichen Wollen und Handeln des Menschen in verschiedenen Lebenssituationen, "Religion" bedeutet Glaube und Gottesverehrung. Niemand kann etwas dagegen haben, dem Menschen beides zugänglich zu machen. Sache des Staates in einer aufgeklärten Gesellschaft muß es aber sein, zum verantwortungsvollen Umgang in einer Gesellschaft zu erziehen, in der Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert sind. Daraus ergibt sich für mich die logische Konsequenz eines verpflichtenden Unterrichtsfaches "Ethik", neben dem "Religion" als Freigegenstand angeboten wird.

Daß kürzlich im Parlament ein Antrag der Liberalen diskutiert (und letztlich von SPÖ, ÖVP und FPÖ abgelehnt) wurde, der "Ethik" und "Religion" als alternative Pflichtgegenstände vorsah, hat seine Ursache darin, daß auch bei uns die Debatte lang und tiefgreifend geführt wurde. Am Anfang stand der alternative Pflichtgegenstand, der es den Schülerinnen und Schülern freistellt, sich zu entscheiden, ob sie die Antworten für ihre Sinnsuche und Orientierungshilfe für ihr Leben in der Gesellschaft von einer Kirche hören oder ihre Antworten in einem Unterricht der vielfältigen Information selbst finden und erarbeiten wollen.

Die Liberalen haben ihre Position zum Unterrichtsgegenstand "Ethik" weiterentwickelt. Die Koalition aber ist bis heute nicht bereit, auch nur einen ersten Schritt zu setzen. Für sie bleibt das Religionsbekenntnis und der dazugehörige Unterricht (wie lange noch?) wichtiger als weltanschauliche Pluralität und das Erlernen des Umgangs mit (geänderten) gesellschaftlichen Verhältnissen, die Vermittlung spiritueller Botschaften wichtiger als die vernunftbegründeter Orientierungshilfen. Ich denke, daß wir uns am Weg ins 21. Jahrhundert noch von so manchen Strukturresten des 19. Jahrhunderts befreien sollten.

Die Autorin ist Klubobfrau des Liberalen Forums.

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