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Wie viel Gewissen braucht die Politik?
Gewissensentscheidungen werden gerne als Grundlagen einer politischen Entscheidungskultur propagiert. Ein Blick in die Geschichte der Ausbreitung des Christentums zeigt aber, dass dies nicht immer der Fall sein muss.
Gewissensentscheidungen werden gerne als Grundlagen einer politischen Entscheidungskultur propagiert. Ein Blick in die Geschichte der Ausbreitung des Christentums zeigt aber, dass dies nicht immer der Fall sein muss.
Mit einer Berufung auf das Gewissen verbindet man eher persönliche Entscheidungen als komplexe Gesetze, die in einem komplizierten Verfahren und unter Berücksichtigung von mathematisch zu berechnenden Mehrheiten zustande kommen. Deswegen mag ein Blick in die Geschichte zeigen, wie Gewissensentscheidungen rechtliche Maßnahmen erzwingen, die große Veränderungen nach sich ziehen sollen.
Ein entscheidender Zeitraum im Römischen Reich war der Weg des christlichen Bekenntnisses von einer verfolgten Minderheit zur beherrschenden Religion, der sich im vierten Jahrhundert vollzog. Im Jahr 313 wurde das Christentum unter Kaiser Konstantin zur erlaubten Religion. Davor waren Christen verfolgt worden, weil sie die im Römischen Reich übliche Kaiserverehrung nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten. Mit dieser Formulierung ist bereits angedeutet, dass die römischen Kaiser das Christentum gar nicht explizit verfolgten, vielmehr deutet alles darauf hin, dass etwa Kaiser Decius, unter dem es um die Mitte des dritten Jahrhunderts zu einer durchaus brutalen Verfolgung von Christen gekommen war, überhaupt nicht mit dem Widerstand zahlreicher Christen gegen die reichsweit angeordneten Opfer gerechnet hatte. Für den Kaiser war die Situation irritierend, die Reaktion der Christen dürfte er als irrational erlebte haben. Schließlich ging es bei den Opfern nicht so sehr um die religiöse Komponente der Kaiserverehrung, sondern um eine Loyalitätsbezeugung.
Kaiserliche Gewissensentscheidung
Eben diese Loyalität der seit der Verfolgung unter Decius noch einmal weitaus zahlreicher gewordenen Christinnen und Christen konnte sich Konstantin mit der freien Religionsausübung sichern. Er selbst stand dem Christentum nahe, ließ sich aber – eine persönliche Gewissensentscheidung – erst am Sterbebett taufen. Diese späte Taufe ermöglichte ihm eine Äquidistanz zu den unterschiedlichen religiösen Strömungen, die es im Römischen Reich zu seiner Zeit weiterhin gab. Auch wenn römische Herrscher in ihrer Machtposition formal weitaus besser abgesichert waren als die Mitglieder der gewählten Parlamente, konnte es sich der Kaiser nicht leisten, wichtige und einflussreiche gesellschaftliche Gruppen, die in diesem Fall auch religiös definiert waren, einfach nur vor den Kopf zu stoßen. Ein durch die Taufe erfolgtes öffentliches Bekenntnis zum Christentum hätte es ihm aus religiösen Gründen unmöglich gemacht, an religiösen Handlungen der „Altgläubigen“, also der traditionellen Religionen des Römischen Reiches, teilzunehmen. So konnte er sich als Beobachter an das Christentum annähern, war jedoch gleichzeitig in der Lage, auch an den religiösen Handlungen anderer Religionen teilzunehmen
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