Wie viel Gleichheit verträgt der Mensch?

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Gleichheit der Rechte und Chancen war einer der zentralen Inhalte der Aufklärung. Die Renaissance der Ungleichheit vollzieht sich indes unter dem Decknamen der "Individualisierung", auf Luxussamtpfoten "alternativer Lebensstile" kommt das Ende der Solidarität daher.

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Gleichheit der Rechte und Chancen war einer der zentralen Inhalte der Aufklärung. Die Renaissance der Ungleichheit vollzieht sich indes unter dem Decknamen der "Individualisierung", auf Luxussamtpfoten "alternativer Lebensstile" kommt das Ende der Solidarität daher.

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Es gibt Fragen, die tragen ihre Antwort schon in sich. Wer fragt, wie viel Gleichheit der Mensch "vertrage", der gibt uns damit zu verstehen, dass mit der Gleichmacherei endlich Schluss sein müsse. Wenn ich die Zeichen der Zeit verstehe, dann versandet die gleichheitsorientierte Gerechtigkeitsdiskussion des 20. Jahrhunderts in einer Unübersichtlichkeit, aus der ein neuer Lobgesang auf die Ungleichheit emporzusteigen beginnt.

Dies ist umso erstaunlicher, als unser ökonomisches System die riesigen Ungleichheiten auf buchstäblich allen Ebenen verstärkt. Da heute andauernd von globaler Vernetzung geredet wird, können die Länder, in denen ein gewisser Wohlstand herrscht, nicht mehr damit argumentieren, sie hätten mit den Hungersnöten, dem Terror und den Brandschatzungen rund um den Globus nichts zu tun. Gewiss, Primärursache sind ruchlose Politiker, Glaubensfanatiker und andere menschliche Teufel.

Der Beitrag, den der "freie Markt" zum Massenelend leistet, ist ebenfalls evident, aber weniger durchsichtig, weil Banken und multinationale Konzerne nach außen hin bloß ihren Kunden zu Diensten und dabei Schrittmacher des Wachstums sind. Die Billionen-Dollar-Syndikate, ob Öl-, Waffen- oder Pharmaproduzenten, samt ihrem Heer aus Lobbyisten und Korruptionisten, machen mit riesigen Schmiergeldfonds die sprichwörtlich "höchsten politischen Kreise" geneigt.

Gleichzeitig wächst die Ungleichheit in den reichen Nationen des Westens ins schier Unermessliche. Das reicht von den Parkbänken, die bereits viel zu wenige sind, als dass die Obdachlosen darauf schlafen könnten, bis hinauf zu den Vorstandsetagen der Global Players, deren Top-CEOs das Dreihundertfache eines durchschnittlichen Arbeiterlohns lukrieren. Unterdessen taumeln die Börsen, wachsen die Staatsschulden wie Sand am Meer und endet die Gier der Kleinaktionäre beim Privatkonkurs.

Anschwellender "gepflegter" Diskurs

Ein weltweiter Schrei nach mehr Gleichheit wäre also das Mindeste, das sich erwarten ließe. Doch die praktisch rechtlosen, am und unter dem Subsistenzniveau dahinvegetierenden Massen, die kein Smartphone besitzen, um ihre Schreie der Verzweiflung auf Facebook oder Twitter zu "posten", bleiben ungehört. Stattdessen wirbeln im Internet die Hasspostings gegen die Ärmsten der Armen durcheinander - "Lasst sie verrecken!", "Dreckspack, soll im Meer ersaufen!" etc. - und freilich auch "Shitstorms" gegen prominente Hassposter.

Und zwischen all die kontinentalen Notstände, Megaverbrechen und tellurischen Katastrophen schiebt sich bei uns ein "gepflegter" Diskurs, der anschwillt unter der stillschweigend leitenden Frage: "Wie viel Gleichheit verträgt der Mensch?" Die Frage klingt zunächst, als ob sie sich in einem Paralleluniversum bewegte, und in gewissem Sinne ist es so: Vor mir liegt die Augustausgabe einer jener Hochglanzillustrierten, die an der Modellierung unseres kollektiven Lebensgefühls arbeiten, was neuerdings bedeutet, dass wir uns immerfort selbst "neu erfinden" müssten.

Damit eine solche existenzielle Langzeitzirkusnummer gelingen kann, bedarf es eines Kontextes, der zurzeit - schon etwas blässlich - "Bio" heißt, nun aufgefrischt durch das glänzende Signalwort "Achtsamkeit". Deshalb der illustrierte Themenschwerpunkt: "Die neue Achtsamkeit: eine Haltung, vier Bäuerinnen, wahres Glück". Was hinter derartigen Annoncierungen steckt, ist an der Basis ein Ego-Ismus, der eine "spirituelle" Form der Solidarität suggeriert - die Gemeinschaft der Achtsamen, der Biobewussten und allgemein derer, die bereit sind, dem "wahren Glück" zu begegnen. Von den Trendsettern wird durchaus geschäftstüchtig mit der Lockung aufgewartet, jeder Durchschnittsmensch sei in der Lage, sich in ein einzigartiges Exemplar zu verwandeln, und sei es - bisweilen bedarf es eben doch einschneidender Maßnahmen - durch schönheitschirurgische Optimierungen.

Wogegen hier mobil gemacht wird, ist der Gedanke, dass wir so ziemlich alle ziemlich gleich sind. Diesem Gedanken zufolge sollten wir uns weniger bemühen, anders als die anderen zu sein, sondern vielmehr einigermaßen anständige, sensible und liebevolle Mitglieder einer Gesellschaft, die sich dem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet hat. Gleichheit der Rechte und Chancen galt der liberalen Aufklärung als Voraussetzung für die Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben. Ungleichheit hingegen verlangte allgemein einsehbare Argumente.

Verachtung der Massen

Die postmoderne Form der Gleichheitsflucht - es kommt ja, vom äußeren Erfolg einmal abgesehen, auf die gelebte Gegenwart, den intensiven Augenblick an, nicht wahr? - ist historisch ignorant. Sie blendet aus, dass die bekannten Formen des Ungleichheitsdenkens stets dazu angetan waren, totalitäre Herrschernaturen und rücksichtslose Herrenmenschen, ob von Geburt oder aus Passion, an die Macht zu bringen. Schon Darwin prognostizierte in "The Descent of Man"(1871) die baldige Ausrottung der "primitiven Völker" durch uns Stärkere. Als Sozialdarwinist ganz und gar kein "Gleichheitsapostel", fand er den "natürlichen Lauf der Dinge" natürlich.

Man wird das Lob der Ungleichheit immer wieder finden, bei Nietzsche, bei Carl Schmitt, bei Konrad Lorenz, der gegen die "Verhausschweinung des Menschen" wetterte. Im Übrigen gehörte es zum guten Ton des bürgerlichen Bildungsdenkens, dass man die "Massen" verachtete. Martin Heidegger etikettierte das Durchschnittsphänomen menschlichen Denkens und Handelns mit dem Begriff des "Man": Was "man" tut, ist niemals authentisch, keine Lichtung des Seins tut sich auf im gestanzten Alltag der Vielen und Vielzuvielen.

Es könnte eingewendet werden, dass ich allerlei disparate Dinge zusammenwürfle, einerseits die zarten Blüten der Achtsamkeitslebenskunst und andererseits die Brutalitäten eines bildungsdünkelhaften Elitarismus, der vor Biologismen nicht zurückschreckt. Außerdem könnte man mich rügen, weil ich zum Faschismus der Gleichmacherei schweige, wie er sich im realen Kommunismus zynisch etablierte. Darüber hinaus kennen wir die Versuchung gutmeinender Machtmenschen, die Gesellschaft zu einem "Menschenpark" aus gleichgerichtet glücklichen Marionetten umzuformen.

Des Teufels Party

Mir liegt es fern, derlei Gefahren und Zukunftsszenarien herunterzuspielen. Nur sagen diese eben nichts aus über den heute mitten im Wohlstand grassierenden Hang, die Gleichheit als Solidaritätsmarker geringzuschätzen und an ihre Stelle die Quasireligion individueller Lebensstile zu setzen - eine "Religion", die einhergeht mit dem eigensüchtigen Projekt, das "gute Leben" als soziales Positionsgut zu etablieren: Damit das Leben "gut" ist, dürfen nicht alle daran teilhaben! Dadurch wird die "Individualisierung" zu einem Decknamen für die Renaissance der Ungleichheit.

Derjenige, der unter solchen Voraussetzungen die Frage stellt, wie viel Gleichheit der Mensch vertrage, fragt nicht gleichsam unschuldig. Er arbeitet einer Entsolidarisierung zu, womöglich ohne es zu bemerken. Denn das Ende der Solidarität kommt im Zyklotron unserer Karrierewelten gerne auf den Luxussamtpfoten alternativer Lebensstile daher. Man darf eben keine Verkäuferin im Supermarkt sein, um das "wahre Glück" der Achtsamkeitsbäuerinnen in ihren üppigen Bio-Gärten genießen zu können

Kein Zweifel, die Welt ist, summa summarum betrachtet, the devil's party, ein Ort, an dem sich der Teufel in vielerlei Gestalt vergnügt. Das "natürliche" Streben nach Ungleichheit gehört dazu. Unnatürlich ist, so gesehen, unser christlich-humanistisches Erbe. Ihm eignet ein obstinates Gefühl dafür, dass wir in unserer endlichen, sterblichen Substanz alle gleich sind und als zerbrechliche Geschöpfe verpflichtet, einander beizustehen, und zwar gerade dort, wo es die Ungleichheit ist, welche die Not gebiert.

"Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." Darin steckt in nuce die einzig menschenwürdige Antwort auf die Frage, wie viel Gleichheit der Mensch vertrage. Unsere Ungleichheit ist eine Hypothek, eine Bringschuld gegenüber den Ärmsten unserer Brüder und Schwestern. Einzig jene Schuld abzutragen bewahrt uns davor, mit dem Teufel zu paktieren.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz

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