Wien, in Todes Angesicht

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Zu Reinhold Schneiders 100. Geburtstag am 13. Mai: Einer der wichtigsten Schriftsteller der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts harrt der Wiederentdeckung - gerade in Wien, wo er sein dunkelstes Werk verfasste. von michael hofer

Im Dezember 1957 ergeht an Reinhold Schneider ein Brief, der voll des Erstaunens ist, dass "... Sie noch immer in Wien weilen, offenbar richtig verzaubert in dieses Märchen von einer Stadt". Damals wusste er vielleicht selbst noch nicht, dass er so lange bleiben würde. Er reiste sterbenskrank am 6. März 1958 aus Wien ab, wohin er Anfang November 1957 gekommen war. Im Buch "Winter in Wien" gibt Schneider Auskunft über seinen Aufenthalt und das Erleben dieser Stadt. Das Erscheinen des Buches erlebt er nicht: er stirbt am 6. April 1958.

So war er, der sein ganzes Leben lang gerne reiste, letztlich angekommen. Aber nicht erst im Tod, sondern bereits vorher: hier in Wien. "In Wahrheit", schreibt er, "ist hier meine Heimat gewesen - und es kann ja nur eine geben." Dabei hat er Wien ein Leben lang gemieden, ja es geradezu gefürchtet. Er wollte sich diese Stadt nicht früher zumuten. Erst als sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte, wagte er die Reise dorthin. Zuerst kurz im Sommer '57, dann zum längeren Aufenthalt im Winter. Und das Erwartete trat ein, die Stadt verzauberte ihn.

Seine Aufzeichnungen kommen schmucklos daher als das, was sie sind: Notizen. Eine andere Textgestalt lässt sein Zustand nicht zu. Seine Befindlichkeit sieht er veranschaulicht in einem Bild von P. Bruegel, das im Wiener Kunsthistorischen Museum zu sehen ist. Es trägt den Titel "Der Seesturm". Darauf ist unter einem dunklen, gewittrigen Himmel ein wild aufgepeitschtes Meer zu sehen, auf dem sich zahlreiche Schiffe tummeln. Im Vordergrund hält sich ein Schiff mit geblähten Segeln über Wasser, das offenbar einem riesigen Meerestier entkommen will. Angesichts des weit aufgerissenen Mauls dieses Ungeheuers wird es zu einem Schiffchen und das Maul zu einem Schlund. Zwischen den beiden ist noch ein Abstand. Zwischen Schiff und Wal schwimmt ein Fass, das die Mannschaft ins Meer geworfen haben dürfte. Sei es um den Verfolger abzulenken, sei es um schneller voranzukommen.

Stadt der Traurigkeit

Worin sah Schneider den Sturm und das Ungeheuer? Was ließ er über Bord gehen, um davonzukommen? War es das Christentum, oder einzelne Inhalte des Christentums, die Schneider aufgab? Des Öfteren kommt er darauf zu sprechen, dass ihm manche seiner Tage durch Einladungen und Besuche schneller vergehen. Dabei dürfte er dann schon einmal in "heillose Ketzereien", wie er es nennt, verfallen sein. Er steht auch nicht an, diese als mühsam für den Zuhörer anzusehen, gibt aber auch zu bedenken, dass seine Fragen und Vermutungen "mit der inneren religiösen Verfassung der Stadt zusammenhängen" könnten. Also auch Wien ist daran ein wenig schuld.

Aber Wien ist an noch viel mehr schuld. Er spricht von einem "inneren Unfall", der sich durch die Begegnung mit Wien ereignet hätte. Und zwar sei es zu einem "Einbruch der dunklen Wasser in einen leer gewordenen Raum, einem Einbruch also von unten her" gekommen. Hat das Wegwerfen des Fasses nichts geholfen? Ist das Wasser dann in den leeren Schiffsbauch gedrungen? "Man blickt", schreibt Schneider weiter, "nicht ungestraft in den Kosmos, die Tiefsee, die Geschichte - und vielleicht auch nicht ungestraft in sich selbst, in den Menschen. Was mich überrascht, ist, dass ich keine Bangnis empfinde".

Und tatsächlich: die Begegnung mit der Geschichte, der Durchblick darauf, den diese Stadt als alte Reichshauptstadt an allen Ecken und Enden für ihn gewährt, lässt ihn oft glücklich sein. An anderen Tagen muss er allerdings zugestehen, dass er die "Gefährlichkeitsgrenze" mit seinem Aufenthalt in Wien überschritten habe. Der Untergang der Monarchie, die Zerstörung des Reichsgedankens wird ihm hier in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Deshalb erwägt er immer wieder die Abreise: weg in den leichten, warmen Süden, ab nach Rom. Aber er bleibt und entschuldigt Wien. Nein, nein, sagt Schneider zu sich, es wäre falsch zu meinen, "du habest deine Traurigkeit in ihrer Stadt gefunden, während du sie doch in dir gefunden hast in ihrer Stadt - vielleicht ist in Wien das Los über deine arme Seele gefallen, und du bist nur hergekommen, um es entgegenzunehmen."

Was tut er eigentlich in Wien? "Nichts", antwortet Schneider darauf. "Ich rede nur vor mich hin über die Zeit." Die Zeit ist ihm nicht mehr verständlich. Bis zum Frühjahr vorigen Jahres erschien es ihm noch so, dass seine Zeit am Untergang war. Symbol dafür war ihm das elterliche Hotel in Baden-Baden. Es wurde damals abgerissen, um den Verkehr flüssiger zu machen. Schneider reiste dazu in die Heimatstadt, um es noch einmal zu begehen und den Abbruch mitanzusehen. Eine Veränderung der Welt. Hier in Wien ist für ihn aber klar: es droht der Untergang. Die Veränderungen der Welt sind ihm schon lange unverständlich: Nach dem 2. Weltkrieg ist er erstaunt darüber, dass die Hinwendung der Deutschen zum Christentum ausbleibt. Dabei hatte er die Erneuerung des Glaubens im Krieg selbst miterlebt und war wohl auch daran beteiligt. Seine Sonette und sein Büchlein über das Vater Unser wurde tausendfach gedruckt und verteilt. Das brachte ihm 1944 die Anklage wegen der "Vorbereitung zum Hochverrat" ein. Jetzt, in Wien, spricht er ironisierend von "religiösem Sanitätsdienst", den er geleistet hätte. Nach dem Krieg tritt er vehement gegen eine Wiederbewaffnung Westdeutschlands ein. Er steht nicht an, Friedensaufrufe in West und Ost zu veröffentlichen, die ausgerechnet ihm, dem erklärten Monarchisten, den Ruf einbringen, Kommunist zu sein.

Wenig hat sich verändert ...

Damit nicht genug: er kritisiert auch die damalige Haltung der Kirche, die sich nach seinem Dafürhalten viel zu wenig zum Pazifismus bekennt. Damit hat er viele seiner Anhänger verstört und auch verloren. Ehrungen sind deshalb aber nicht ausgeblieben: so erhält er etwa 1956 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Seine Haltung war, konservativ und revolutionär zugleich zu sein, und das war offensichtlich schon damals nicht leicht nachvollziehbar.

Woher nimmt er die Indizien für einen drohenden Untergang? Woher weiß er, was los ist? Seine Quellen zitiert er im "Winter in Wien". Der Chronikteil der Zeitungen, die er in zahlreichen skandinavischen und romanischen Sprachen zu lesen gewohnt war, lässt ihn darin sicher sein. Unfälle aus Medizin und Technik sind ihm Zeichen der Zeit. Aber nicht nur gegenwärtige Ereignisse interessieren ihn, sondern auch die Natur. "Es ist erstaunlich, wie die Zeit sich aussagt, ihr adäquates Bild erdichtet, wie Geschichte und Natur sich verraten." In der Natur verrät sich für ihn der Selbsthass des Lebens, das sich durch abstruseste Formen von Fressen und Gefressenwerden erhält - oder am Ende doch selbst vernichtet?

Er wohnte in einer Pension am Stubenring. Die jeweilige Wetterlage eruierte er durch einen Blick auf das Denkmal Radetzkys, das nach wie vor gegenüber steht. Auch die Kirche der Unierten, St. Barbara, ist noch ums Eck, genauso wie die Dominikanerkirche, und auch die riesige Platane am Lueger-Platz gibt es noch. Wenig hat sich geändert. Nichts bzw. alles erinnert an Reinhold Schneider.

Der Autor ist Assistent am Institut für Philosophie der Katholisch-theologischen Privatuniversität Linz.

Als großer Schwermütiger gilt Reinhold Schneider (1903-58), dessen Werke einst viel gelesen wurden. Nach der NS-Machtübernahme wird Schneider zum großen Dichter des inneren Widerstandes, sein Roman "Las Casas vor Karl V." ( 1938) klagt verschlüsselt die Judenverfolgung an. Schneider, der 1937 zum Katholizismus zurückfand, wurde in den vierziger Jahren zum Vorkämpfer katholischer Erneuerung ("Allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten", schrieb er 1941); er verstand sich aber auch als "Unruhestifter, Ankläger, verhasst den Mächtigen, unerwünscht den Oberhirten".

Fast vergessener Klassiker

Anlässlich des 100. Geburtstags von Reinhold Schneider legt der Herder-Verlag eine Neuausgabe von "Winter in Wien" auf.

Schneiders letztes Opus ist auszugsweise auch in zwei neuen Anthologien enthalten: Das bei Tyrolia erschienene "Reinhold Schneider-Lesebuch" ist eine heute noch fesselnde Sammlung spiritueller Texte des Dichters ("Bekehrung des Ramón Llull", "Ignatius von Loyola", "Verhüllter Tag"...).

Und der Insel-Verlag legt einen repräsentativen Querschnittsband durch Schneiders Essays, Gedichte und Erzählungen vor, in dem Texte aus der Vorkriegsära ebenso wie Gedichte aus der NS-Zeit oder des Widerstands gegen die Aufrüstung Deutschlands nach 1945 berühren. ofri

Winter in Wien. Aus meinen Notizbüchern 1957/58

Von Reinhold Schneider Mit der Grabrede von Werner Bergengruen, Verlag Herder Freiburg, 4. Auflage 2003 304 Seiten, geb., e 24,70

Reinhold Schneider Ein Lesebuch Hg. v. Maria Anna Leenen Verlag Tyrolia, Innsbruck 2003

184 Seiten, geb., e 17,90

Der Wahrheit Stimme will ich sein. Essays, Erzählungen, Gedichte

Von Reinhold Schneider, Hg. v. C. P. Thiede und K.-J. Kuschel, Insel Verlag, Frankfurt 2003, 332 Seiten, geb., e 25,60

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