"Wir können erstaunlich VIEL VERÄNDERN"

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Die Debatten um Mindestsicherung und Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge zeigen, dass Solidarität heute wichtiger denn je ist, meint Caritas-Präsident Michael Landau.

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Die Debatten um Mindestsicherung und Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge zeigen, dass Solidarität heute wichtiger denn je ist, meint Caritas-Präsident Michael Landau.

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Armut und Verzweiflung herrschen nicht nur in Krisenregionen, sondern auch an den sozialen Rändern in Österreich. Wie wir konstruktiv handeln können, anstatt Leid aufzuwiegen und Gruppen gegeneinander auszuspielen, erklärt der Caritas-Armutsexperte und Geistliche Michael Landau.

DIE FURCHE: 1,2 Millionen Menschen in Österreich sind arm oder akut armutsgefährdet. Ist es für Sie nachvollziehbar, dass Einheimische sich bedroht fühlen von ankommenden Flüchtlingen?

Michael Landau: Es geht nicht um ein "Entweder-oder", sondern um ein "Sowohl-als-auch": Ich habe in vielen Gesprächen von der Sorge erfahren, dass jetzt auf die Not der Österreicher vergessen wird. Dabei dürfen wir gerade jetzt Themen wie Arbeitslosigkeit, Pflege oder Bildung nicht vergessen. Leider besteht die Versuchung, Menschen in Not gegeneinander auszuspielen, um sich andere Diskussionen zu ersparen. Diese geschürten Ängste können aber nur schwer wieder in den Griff bekommen werden. Wir müssen uns daran messen lassen: Gelingt es uns, mit allen Menschen in menschenwürdiger Weise umzugehen?

DIE FURCHE: Leider ist das nicht einfach: Täglich konfrontiert mit den Bildern vom globalen Elend und den Bettlern in der eigenen Stadt droht eine gewisse Abstumpfung.

Landau: Wir können etwas ändern, wenn wir wollen - nicht alles, aber erstaunlich viel. In den letzten 20 Jahren habe ich an vielen Orten gesehen, was alles gemeinsam gelingen kann. Ich will mit meinem Buch zur Solidarität anstiften, weil ich überzeugt bin, dass die Wirklichkeit von jedem Einzelnen abhängt. Wenn ich an das Caritas-Projekt "Gruft" denke, hat das mit einer Schulklasse begonnen, und ist heute aus der Hilfe für wohnungslose Menschen nicht mehr wegzudenken.

DIE FURCHE: Was genau verstehen Sie unter Solidarität?

Landau: Ich glaube Solidarität heißt, ein Stück vom anderen in sich selbst zu erkennen und danach zu handeln. Wir sind in eine Schicksalsgemeinschaft verwoben, aus der keiner ausgeschlossen werden darf, aus der sich aber auch keiner davonstehlen darf. Mein Buch ist eine Absage an die Untergangsstimmung: Wir brauchen eine Renaissance der Zivilgesellschaft, weil wir alle Verantwortungsträger sind - für uns selbst und für andere in gleicher Weise.

DIE FURCHE: Was halten Sie von einer Kürzung der Mindestsicherung, damit sich "Arbeiten wieder lohnt"?

Landau: Ich halte es für brandgefährlich, den Sozialstaat und seine Instrumente zu diffamieren. Ohne Sozial- und Familienleistungen wären doppelt so viele Menschen akut arm oder armutsgefährdet. Dennoch leben in Österreich 220.000 Menschen in Wohnungen, die sie nicht warm halten können. Mich irritiert, dass wir darüber diskutieren, ob Menschen, die von 800 Euro monatlich leben müssen, zu viel haben. Wir diskutieren aber nicht darüber, dass der Multikonzern Starbucks 2014 in Österreich 814 Euro Steuern bezahlt hat. Und die Mindestsicherung ist bereits an sehr scharfe Auflagen geknüpft: Die Frage, ob man arbeiten geht oder lieber Mindestsicherung bezieht, stellt sich nicht. Diese Falschbehauptung wird auch durch mehrmaliges Wiederholen nicht wahrer.

DIE FURCHE: Dabei sprechen ÖVP- und FPÖ-Politiker gerne von der "sozialen Hängematte".

Landau: Wer davon spricht, hat von der Wirklichkeit der Betroffenen nicht die geringste Ahnung. Aus Gesprächen mit Menschen in unseren Familienzentren, Sozialberatungsstellen, Mutter-Kind-Häusern, Langzeitarbeitslosen-Projekten weiß ich, wie viele um das Überleben ringen. Über jene am unteren Rand der Gesellschaft diskutieren wir mit viel Energie. Mit Neiddebatten kommen wir aber nicht weiter. Ich würde mir wünschen, dass politische und kirchliche Verantwortungsträger den Blickkontakt mit der Not viel mehr suchen. Jene, die über andere hinwegfahren und Menschen gegeneinander ausspielen, sind möglicherweise die gleichen, die bei einem Abendessen mit Freunden jenen Betrag umsetzen, den andere für ein ganzes Monat zur Verfügung haben.

DIE FURCHE: Drücken sich viele Politiker vor solchen Begegnungen?

Landau: Menschen, die gewohnt sind, in einem großen Auto von einem Ort zum anderen gebracht zu werden, sind immer gefährdet, die Wirklichkeit auszublenden. Ich will einzelnen Politikerinnen und Politikern den Mut ins Gedächtnis rufen, an Orte zu gehen, wo das Leben brüchig wird, in Obdachloseneinrichtungen, in Flüchtlingseinrichtungen, in Pflegeeinrichtungen, in die "Gruft", und dann im Blickkontakt von Mensch zu Mensch die Frage zu beantworten: Ist es richtig, dass dieser Mensch im Keller eines Abbruchhauses übernachtet? Wenn sie das nicht richtig finden, möchte ich von ihnen wissen, was sie dagegen tun.

DIE FURCHE: Was halten Sie von der Debatte über Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge, aber auch für Arbeitslose generell, wie in Deutschland?

Landau: Dass Österreich die Finanzkrise besser überstanden hat als viele andere Länder, hängt stark zusammen mit einem funktionierenden Sozialstaat, diesem Netz der Aufmerksamkeit, das wir über Jahrzehnte geknüpft haben. Ich bin überzeugt, dass der Sozialstaat kein beliebig verschlankbares Anhängsel zum Wirtschaftsstandort ist, sondern eine soziale Investition, ein Ausdruck der Menschenwürde. Wir können es uns nicht leisten, ohne Sozialstaat zu sein. Die Starken brauchen zwar keinen starken Staat, aber die Schwachen brauchen ihn.

DIE FURCHE: Wie ist es Ihrer Meinung nach mit der Menschenwürde vereinbar, in Österreich für einen Euro pro Stunde zu arbeiten?

Landau: Das deutsche Jobwunder ist erkauft durch die vielen Menschen in prekären Lebenslagen. Der Niedriglohnsektor macht in Deutschland 22 bis 24 Prozent aus, in Österreich neun Prozent. Indem ich Druck auf Menschen ausübe, ihnen zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel gebe, schaffe ich nicht mehr Jobs. Ich nehme immer stärker wahr, dass Menschen kritisch reagieren, wenn sie hören: "Wir sind ein reiches Land" - weil sie davon nichts spüren. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt 37 Prozent des Vermögens. Da ist viel aus der Balance geraten.

DIE FURCHE: Und trotzdem erweckte die erste Runde des Präsidentschafts-Wahlkampfes den Eindruck, wir hätten im Land kein anderes Problem als die Flüchtlinge.

Landau: Mich irritiert der Eindruck, die Regierung bestehe nur mehr aus Flüchtlingsexperten. Was hat Österreich stark gemacht? Die Bereitschaft zusammenzuhalten. Ich bin überzeugt: Wer Österreich liebt, spaltet es nicht. Das ist ein Appell an alle Wahlwerbenden. Dieses Zusammenstehen benötigen wir aber auch in Europa. Denn wir haben auf dem Kontinent kein Flüchtlingsproblem, sondern ein Solidaritätsproblem. Große Aufgaben wie Armut, Klimawandel, Flüchtlinge brauchen letztlich gemeinsame Lösungen. Hugo Portisch hat gesagt: "Wer Europa retten will, muss Afrika retten." Das ist noch viel zu wenig in den Köpfen und Herzen angekommen.

DIE FURCHE: Trotz der globalen Herausforderungen gibt es den Trend zur Renationalisierung.

Landau: In einer Zeit, wo viele Herausforderungen anstehen, die Nachrichten nur so auf uns einprasseln, wächst die Sehnsucht nach Grenzen. in der Hoffnung, man könnte alle Herausforderungen draußen lassen - eine trüge rische Hoffnung. Ich warne vor eier Rückabwicklung des Projekts Europa. Es stehen Reformen und eine Weiterentwicklung an. Wir brauchen auf EU-Ebene nicht nur eine reine Wirtschaftsunion, sondern auch eine Solidaritätsunion.

Global betrachtet brauchen wir einen Ausgleich zwischen den Ländern des Nordens und Südens. Ein deutscher Bischof hat gesagt: "Wir handeln wirtschaftlich global, politisch multilateral und moralischethisch erstaunlich provinziell."

Buchpräsentation "Solidarität" mit Michael Landau

Dienstag, 13.9.2016,19.30 Uhr

Buchhandlung Morawa

Wollzeile 11,1010 Wien

https://www.brandstaetterverlag.com/buch/solidaritaet

Solidarität

Anstiftung zur Menschlichkeit.

Von Michael Landau Brandstätter 2016.

192 Seiten, Hardcover, € 22,90

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