"Wir müssen bereit sein zum EXPERIMENT"

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Der Politikwissenschafter Joachim Hirsch über die Erfolge der Populisten und die notwendigen Reformen der Gesellschaft.

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Der Politikwissenschafter Joachim Hirsch über die Erfolge der Populisten und die notwendigen Reformen der Gesellschaft.

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Wie können sich die gemäßigten staatstragenden Parteien in einer Zeit des Populismus behaupten? Der Frankfurter Politikwissenschafter Joachim Hirsch fordert neue Reformkräfte ein, sieht aber dabei weniger die Politik in der führenden Rolle als unabhängige Bürgerbewegungen, die das kapitalistische System zu reformieren suchen.

DIE FURCHE: Die gemäßigten Parteien kommen immer mehr unter Druck. Die Österreicher haben einem rechtspopulistischen Präsidentschafts-Kandidaten im ersten Wahlgang die große Mehrheit ihrer Stimmen gegeben. Warum ist ausgerechnet rechte Demagogie so erfolgreich?

Joachim Hirsch: Alles ist ziemlich durcheinander geraten. Früher gab es eine Idee von der Zukunft, der man nachstrebte, ein Modell von der Gesellschaft. Heute leben wir in einem Zeitalter, in dem das Faktum die Ideologie ist: Es ist einfach so, wie es ist, Punkt. Das ist eine andere Ideologie als eine, die die Welt verändern möchte. Rechts und links sind ins Schwimmen gekommen. Bewegungen oder Parteien, die sich als progressiv bezeichnen, wollen sich auch gar nicht mehr so leicht einordnen lassen. Und die Frage ist eigentlich, was die sich als links verstehenden Kräfte falsch gemacht haben, dass dem Rechtspopulismus ein derartiger Spielraum eröffnet wurde. Das hängt sicher auch mit verloren gegangenen oder nicht mehr überzeugenden Gewissheiten zusammen.

DIE FURCHE: Aber wenn es kein Denkgebäude mehr gibt, und sich sozusagen jeder seine Denkmöbel von überall zusammenklaubt -je nach Geschmack -, wird das dann nicht zwangsweise unstimmig? Gerade bei den Populisten mischen sich linkes und rechtes Gedankengut zu einem fallweise sehr wirren Sammelsurium.

Hirsch: Das ist schon richtig. Aber auf der anderen Seite sind die alten Ideologien, die linke Ideologie, aber auch der Neoliberalismus gescheitert. Denn inzwischen wird auch den Neoliberalen klar, dass der Markt das einfach nicht schafft. Das Problem ist also, dass wir für die großen Weltentwürfe gar keine Substanz mehr haben. Die alten Vorstellungen, wie die bessere Welt sein soll, sind verloren gegangen. Ich habe selbst Schwierigkeiten dabei, mir eine bessere Welt vorzustellen. Will ich nun den Markt abschaffen, will ich eine Planwirtschaft oder doch Privateigentum?

DIE FURCHE: Nicht wenige meinen, die Panama-Papers zu den Steueroasen und Briefkästenfirmen hätten gezeigt, wie sich der Neoliberalismus erfolgreich selbst erfüllt und die Globalisierung den Staaten oder besser, den Gemeinschaftswesen Ressourcen entzieht. Als Politikwissenschafter -waren Sie überrascht von diesen Enthüllungen?

Hirsch: Nein, überrascht war ich nicht. Überraschend war eher die ungeheure Datenmenge. Aber die Tatsache war ja bekannt, dass es Briefkastenfirmen gibt. Meiner Ansicht nach sind nicht die illegalen Steueroasen das große Problem, sondern die legalen. Nehmen Sie nur die Rangliste der Steueroasen. Da steht Deutschland an neunter und Panama an 13. Stelle. Nicht, weil es also in Deutschland so viel illegale Aktionen gibt, sondern weil alles im erlaubten Bereich ist. Ich glaube, dass dadurch viel mehr Geld dem Staat abhanden kommen, als durch illegale Steuerflucht.

DIE FURCHE: Ist das alles nicht auch eine Konsequenz der geschwächten Stellung des Staates und des Gemeinwesens innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems?

Hirsch: Entgegen der üblichen Meinung glaube ich nicht, dass der Staat ein neutrales Instrument ist, das nach Maßgabe von politischen Kräfteverhältnissen und Wahlen funktioniert, sondern der Staat ist ein kapitalistischer Staat. Das heißt, dass er als Steuerstaat prinzipiell darauf angewiesen ist, dass die Wirtschaft funktioniert, und sie funktioniert nur dann, wenn die Unternehmen ihre Erwartungen erfüllen, also Gewinne machen.

DIE FURCHE: Aber letzten Endes schädigt er sich damit nur selbst.

Hirsch: Wichtig ist, dass die Staaten trotzdem Spielräume haben. Die Logik der Globalisierung schlägt nicht bruchlos auf alle Staaten durch. Das hängt von ihrer Position ab. Die Niederlande etwa und Dänemark, die durch ihre intensive Verflechtung stark mit der Globalisierung verbunden sind, sind sehr abhängig. Aber bei größeren Staaten ist das nicht so stark und es ist durchaus möglich, Kontrollen herbeizuführen. Aber es wird eben nicht gemacht. Man muss auch immer wieder sagen, dass die Globalisierung nicht vom Himmel gefallen ist, sondern von Staaten durchgesetzt wurde. Das heißt, es war das herrschende Interesse der Politik, das so zu machen, auch mit dem Ziel, die inneren demokratischen Strukturen zu schwächen. Und das ist gelungen. Und die Folgen haben wir jetzt zu spüren. Wachsende Ungleichheit, Verarmung, Sozialstaatsabbau, Massenarbeitslosigkeit.

DIE FURCHE: Es gibt Bewegungen, die aus dieser politischen Verzweiflung heraus entstanden sind. Aber gleich, ob in Spanien oder Griechenland, auch sie schaffen die Umsetzung ihrer Forderungen nicht, trotz politischer Mehrheiten?

Hirsch: Grundlegende Veränderungen der gesellschaftlichen Perspektive sind immer durch Bewegungen entstanden, nicht durch Parteien. Mein Punkt ist: Reformpolitik ist möglich. Aber man kann damit nicht an den staatlichen Apparaten ansetzen. Ein Beispiel wäre die Ökologiebewegung. Dass der Staat inzwischen etwas ökologischer geworden ist und nun auch die Energiewende betreibt, ist nicht den Parteien geschuldet, sondern einer Bewegung.

DIE FURCHE: Das hieße, dass die Reformbewegungen, sobald sie sich als Partei organisieren, eigentlich die gesellschaftliche Entwicklung bremsen, weil sie Ideen politisch vereinnahmen?

Hirsch: Das glaube ich. Es ist ein schwieriges Verhältnis zwischen Bewegung und Partei. Warum? Eine Bewegung hat meist sehr hoch gesteckte Ziele und sie scheitert auch deshalb, weil es bis zur Erreichung dieser Ziele sehr lange dauert. Da müssen sich ja gesellschaftliche Zielvorstellungen ändern und Denkprozesse. Das dauert sehr lange. Und das ist für die Menschen frustrierend. Deshalb ist das Scheitern im Bewusstsein von Bewegungsaktivisten immer präsent. Das ist auch ein Grund dafür, dass den Aktivisten der Ausweg über die Parteipolitik sinnvoll erscheint, weil das kurzfristige Erfolge bringt. Leider ist das aber ein Erfolgserlebnis, das der Bewegungsebene entgegengesetzt ist. Und das ist überhaupt ein zentrales Problem, was linke und reformistische Kräfte angeht. Ihre Konzentration auf die Parteipolitik und den Staat ist unheimlich stark geworden. Dadurch treten Konkurrenzverhältnisse unter den Reformkräften auf, weil man als Parteien gegeneinander um Stimmen wirbt. Eine Bewegung hat dieses Problem nicht.

DIE FURCHE: Was braucht es also zur Gesellschaftsreform, wenn nicht Parteien?

Hirsch: Die Weltvorstellung muss sich ändern. Wenn wir uns etwa die Nachkriegs-Wachstumsperiode ansehen, da spielte das Verhältnis zur Natur keine Rolle. Das war einfach eine Ressource. Und bevor das wirklich zum aktuellen Problem wurde, tauchte plötzlich die Vorstellung von den Grenzen des Wachstums auf, etwa mit dem Bericht des Club of Rome. Das wurde aufgegriffen von Bewegungen, die gegen die Ressourcen-Verschwendung auftraten, gegen die Umweltverschmutzung. Diese Bewegungen haben unser Naturverhältnis verändert.

DIE FURCHE: Aber gibt es nicht gerade da eine Menge Illusionen? Auf der einen Seite sind wir "öko", auf der anderen Seite gefangen in einer Wachstumslogik, die das Gegenteil von "öko" bewirkt. Aber das verdrängen wir.

Hirsch: Das ist ein heikles Problem. Man kann das so beantworten: Auch eine Bewegung, die Reformen erzwingt, hält das System aufrecht. Reformpolitik schafft Räume für Weitergehendes, für Denken, für Demokratie und trotzdem bleibt sie im Rahmen der bestehenden Verhältnisse. Das ist ein Widerspruch, der bleiben wird.

DIE FURCHE: Schafft nicht der Widerspruch zwischen Versprechen und Realität das Ohnmachtsgefühl, aus dem die Pegida, der Front National oder die FPÖ ihre Erfolge beziehen? Was wäre zu tun?

Hirsch: Dem wäre nur eine wirklich demokratische Bewegung entgegenzusetzen, in der die Menschen sagen: Jetzt muss wieder an uns gedacht werden. Grundsätzlich ginge es da um Selbstorganisation, im Sinne eines konstruktiven "Wir nehmen das einmal selbst in die Hand". Nicht einfach nur delegieren, sondern selbst etwas tun, das ist der entscheidende Punkt. Es gibt etwa Ansätze, wie eine Gesellschaft ohne Wachstum überleben und existieren kann. Da wird die Kapitalismusfrage irgendwann gestellt werden. Das kann auch in Sektierertum enden, aber anders geht es nicht. Die Menschen müssen zum Experiment bereit sein, und bereit sein, ihr Leben zu ändern. Dann ändert sich auch das System. Am Schreibtisch lässt sich das nicht entwerfen. Das muss gelernt und gelebt werden - und das passiert nur in solchen Initiativen.

Das Gespräch führte Oliver Tanzer

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