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Wir sind alle selbst Betroffene

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Die „Causa Groer” liefert folgendes Bild: In der Arena wird gekämpft, die Ränge schauen zu. Sind wir denn nur Zuschauer?

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Die „Causa Groer” liefert folgendes Bild: In der Arena wird gekämpft, die Ränge schauen zu. Sind wir denn nur Zuschauer?

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Das Bild gibt mir zu denken: Da findet ein äußerst heftiger Kampf in der Arena statt, und auf den Bangen sitzt das Volk und schaut applaudierend oder Buh-ru-fend (je nach Parteinahme), aber voller Faszination und Neugier zu: Hat er's getan oder nicht? Wird er sich outen oder nicht? Werden die Medien neue Zeugen, neue Skandale ermitteln? Welcher Bischof mauert, welcher nicht? Und so weiter ...

Ist das, was an Argem geschehen ist und geschieht, nur Sache von anderen: von Kardinal Groer, von den Bischöfen, von den Medien, von selbsternannten Richtern oder Verteidigern? Oder sind wir selbst viel direkter involviert? Begegnet uns in der Causa Groer nicht unsere eigene Verstrickung in das Böse, so wie auch in einem kranken Körper nicht nur die Geschwulst krank ist, sondern darin nur „herauskommt”, was an Gift im ganzen Menschen steckt?

In seinem bekanntesten Werk, „Bekenntnisse”, schildert der große Kirchenlehrer Augustinus in rückhaltlosem Freimut seine ganze sündhafte Vergangenheit, angefangen vom Birnendiebstahl des Knaben bis hin zu den sexuellen Vergehen des jungen Mannes und seine bleibende Triebhaftigkeit. Kaum bekannt ist, daß der lateinische Titel „Confessio-nes” nicht nur „Bekenntnisse”, sondern auch „Lobpreisungen” bedeutet. Damit ist schon der tiefste Grund für Augustinus' tabu-freie Offenheit genannt: das Bekennen, das Stehen zum eigenen Versagen ist Lobpreis Gottes, der den Menschen annimmt, wie er ist, und dessen Kraft sich gerade - wie Paulus sagt -in der Schwachheit und Ohnmacht des Menschen zeigt.

Augustinus ist beileibe nicht der erste, für den das Sündenbekenntnis Lobpreis der Gnade Gottes ist, die ganze Bußpraxis der Frühen Kirche war davon bestimmt. So bedeutete etwa der damalige „Büßerstand” das Aushalten in einem besonderen „Gnadenstand”. Indem Christen öffentlich bekannten, daß sie sich schwer verfehlt hatten, waren sie für die übrige Gemeinde Zeugen der vergebenden Gnade Gottes und gaben damit im Lobpreis Gottes diesem die Ehre. Man war noch tief vom Jesus-Wort durchdrungen: „Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken”. Wer darum zu seinem „Kranksein” steht, legt ein Bekenntnis zum „Arzt” Jesus Christus ab und findet gerade so Befreiung. Wer dagegen seine Sünde verdrängt und verbirgt, „macht ihn (Christus) zum Lügner und die Wahrheit ist nicht in ihm” (1 Joh 1,10), er legt implizit das Bekenntnis ab, daß er der heilenden Gnade Christi nicht bedarf.

Machen wir einen Sprung in die Gegenwart. Hier herrscht ein völlig anderes Klima: Sünde, Schwachheit, Ohnmacht werden auf breiter Front verdrängt, versteckt, nicht wahrgenommen. Der möglichst perfekte Mensch, der sich keine Blößen gibt (und so auch gegen jeden Investigations-Jour-nalismus resistent ist), der Starke, der keine schwachen Seiten zu erkennen gibt und deshalb auch keiner Vergebung und Bücksichtnahme bedarf, ist das Idealbild. Gewiß, man weiß: Nobody is perfect!, aber das sind kleine Bandunschärfen, die das Gesamtbild nicht trüben. So spielt der heutige Mensch weithin eine Rolle, die ihn total überfordert und nicht der Wahrheit entspricht.

Diese Einstellung ist auch tief in die Kirche eingedrungen. Statt daß der einzelne, auch in seiner Schwäche und Sündhaftigkeit, liebend angenommen wird und ihm neue Perspektiven eröffnet werden, herrschen - wie sonst in der Gesellschaft - hämische Abschätzung, lieblose Verurteilung und Aburteilung. Kein Wunder, daß in einem solchen Klima, das wir alle mit- und weitertragen, das öffentliche Bekenntnis von Schuld, Versagen und Schwäche nahezu unmöglich gemacht wird.

Von daher aber zeigt sich, daß die Causa Groer unsere eigene Causa ist. Der überall zu hörende Ruf: Warum sagt er nicht, was „an der Sache” dran ist?, ist - so sachlich richtig er sein mag - zutiefst pharisäisch, weil die meisten von uns durch ihr eigenes Verhalten genau jenes Klima weitererzeugen, das - zutiefst unchristlich - einem ehrlichen Be-kenntnis kaum Raum läßt.

Nun läßt sich einwenden, daß diese Überlegungen voraussetzen, daß Kardinal Groer etwas zu bekennen habe, aber eben dies stünde doch in Frage. Auch dazu einige Gedanken.

Vor einiger Zeit erzählte mir ein Priester des byzantinischen (orthodoxen) Ritus, wie bei ihnen die ”Reichte vor sich gehe: Priester und

Pönitent stehen nebeneinander und blicken gemeinsam auf eine Ikone. Dann geht der Priester mit dem Reichtwilligen die Zehn Gebote durch, und nach jeder Nennung eines Gebotes sagt dieser: Ich bin sündig geworden! Dieses Bekenntnis wird nach jedem Gebot gesprochen. Denn ~ so die Erklärung - wir alle versagen gegenüber allen Geboten Gottes, unsere persönliche Schuld hat Anteil an aller Schuld; oft ist uns das verborgen, aber dennoch wahr.

Es gibt nicht nur die bewußte, aus voller Freiheit und Verantwortung begangene Schuld, sondern auch das un- oder halbbewußte Schuldigwerden. Darum betet die Heilige Schrift oft darum, daß Gott uns von unseren verborgenen Sünden reinigen möge. - Ich halte diesen Aspekt auch in der Causa Groer für wichtig. Mag sein, daß der Kardinal sich angesichts der Anschuldigungen nichts vorzuwerfen braucht. Mag sein! Aber gibt es nicht Verhaltensweisen, die diesen Anschuldigungen zugrundeliegen und vielleicht sensibel dafür machen können, was vielleicht an un- oder halbbewußtem Verhalten vorliegt?

Der heilige Franziskus scheute sich nicht zu sagen, daß, wenn jemand ihm vorhalten würde, er sei ein Bösewicht und Betrüger und nehme armen Leuten ihr Geld weg, er in diesen Vorwürfen entdecken könne, daß der Betreffende „ihn richtig durchschaut habe und daß Gott ihn so sprechen ließe”.

Mit einer solchen Einstellung, wie sie in Schrift und Tradition grundgelegt ist, wird das einseitige Denken in Weiß und Schwarz, in Schuldig oder Unschuldig, Freund und Feind aufgebrochen. Schuldigwerden und -sein ist ein höchst differenziertes Phänomen, an dem wir alle auf unsere Weise teilhaben. Könnte von dieser Grundlage her nicht auch ein „Bekenntnis” von Kardinal Groer erwartet werden, selbst wenn (!) er sich im strengen Sinn der Vorwürfe für nicht schuldig hält?

Ob Christen ganz aus dem verbreiteten Schema simpler Gegensätze - Schwarz-Weiß, Freund-Feind, Schuldig-Unschuldig - heraustreten können? Hier ist wohl größte Skepsis angebracht. Zeigt nicht in diesem Punkt der Fall Groer Defizite, die die ganze Kirche betreffen?

Häufig hört man, ein mögliches Bekenntnis von Kardinal Groer werde der Kirche schaden, schon die bloßen Vorwürfe gegen ihn hätten der Kirche ungemein geschadet. Diesem Urteil liegt ein bestimmtes Bild zugrunde: nämlich das von der reinen, heiligen Kirche, der makellosen Braut Christi. Auch wenn dieses Kirchenbild eine lange Tradition hinter sich hat, ist es massiv zu hinterfragen. Für die Kirchenväter jedenfalls ist die Kirche genau so „die große Hure” wie „die reine Magd”, gemäß einem Vers aus dem Hohenlied: „Schwarz bist Du, aber schön”. Man hat diesen Vers (allegorisch) so ausgelegt. Ja, die Kirche ist schwarz von Sünde, entstellt durch das Versagen all ihrer Glieder, aber Gott sagt dennoch Ja zu ihr, nimmt sie an, schenkt ihr Liebe und Zuwendung. Und darum, nur darum ist sie auch „schön”.

Solange die Geschichte währt, ist die Kirche eine „sündige Kirche”, ist sie die Kirche des Gekreuzigten, der ihre Schwachheit trägt. Dieses Bild von Kirche wurde im Laufe der Zeit immer mehr zurückgestellt zugunsten der Siegerpose einer triumphal!-stischen Institution. Vergessen wurde weithin, daß das, was Kirche für sich reklamieren kann, ihr nur als stets neues Geschenk von Gott her zukommt. Wir „haben” nicht die Wahrheit, Heiligkeit und göttliche Vollmacht, wir empfangen sie stets aufs neue in unsere leeren Hände „in Furcht und Zittern”. In einer Kirche, die weiß, daß sie „Kirche des Gekreuzigten” ist, darf der einzelne auch sein, was er ist, Sünder, und er darf sich, selbst wenn er Papst und Bischof ist, dazu bekennen.

Der frühere deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann hat einmal folgendes Bild gebraucht: Zeige ich mit dem Finger auf einen anderen, so zeigen drei Finger auf mich selbst zurück. Sollten wir nicht alle diesen Verweis der „drei Finger” ernst nehmen? Dann besteht auch Hoffnung, daß sich etwas bei dem rührt, worauf der eine Finger zeigt. Jedenfalls sind wir nicht Zuschauer, sondern selbst Betroffene.

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