"Wir sind das Salz der Erde"

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Er ist eine Ausnahmeerscheinung im Theaterbetrieb: Peter Radtke. Vergangenen Samstag hat der Schauspieler und Autor die Laudatio auf die Bewegungspädagogin Katalin Zanin gehalten, die mit dem "GLOBArt Innovation Award" geehrt worden ist. Im Interview spricht Radtke über die mediale Darstellung von Menschen mit Behinderung - und seine eigene Karriere.

Die Furche: Herr Radtke, diesen Donnerstag ist Opernball. Vor fünf Jahren wurde dieser Society-Höhepunkt äußerst ungewöhnlich eröffnet: von Mitgliedern der Tanz-und Theatergruppe "Ich bin O.K", die - teilweise im Rollstuhl sitzend - mit Mitgliedern des Staatsopernballetts die Fächerpolonaise von Ziehrer tanzten ...

Peter Radtke: Das war toll damals. Wobei kein Mitleidsbonus geherrscht hat, sondern die Leute einfach begeistert waren. Das zeigt auch, wie professionell Katalin Zanin die Truppe vom "off ballett special" führt ...

Die Furche: Was entgegnen Sie Leuten, die solche Projekte als "Zurschaustellung" Behinderter empfinden?

Radtke: Sehr häufig kommt eine solche Reaktion von Leuten, die eben nicht gern behinderte Menschen auf der Bühne sehen. Ich denke, es hängt zum Großteil davon ab, wie die Menschen selber das empfinden, und die Tänzerinnen und Tänzer aus der Gruppe von Katalin Zanin hatten überhaupt nicht das Gefühl, zur Schau gestellt zu werden. Ähnlich ist es auch in meinem Fall oder anderen Fällen, wo es heißt, ein Regisseur manipuliere und benutze Menschen mit einer Behinderung: Dazu gehören immer zwei Partner.

Die Furche: War es für Sie selbst eine Frage des Mutes, sich als Schauspieler auf der Bühne zu präsentieren?

Radtke: Nein, weil ich aus einem Haus komme, wo Theater immer eine Rolle spielte. Mein Vater war ja Schauspieler. Erst als ich merkte, welche Auswirkungen das auf manche Zuschauer hat, ist mir bewusst geworden, dass es für viele tatsächlich ein Stück Mut bedeutet. Aber diese Selbst-Darstellung gehört eben zum Beruf: Es ist ja ein "Schau-Spiel". Aber man stellt ja nicht nur den Körper zur Schau, sondern man stellt einen Charakter dar.

Die Furche: Sie haben unter Franz Xaver Kroetz und George Tabori in Kafkas "Bericht für eine Akademie" den Affen "Rotpeter" verkörpert. War diese Rollenwahl nicht riskant?

Radtke: Mir ging es in der Darstellung immer darum, dass es sich nicht um die Geschichte eines Affen handelt, sondern um die Geschichte des Menschen, der sich der Gesellschaft anpassen muss, wenn er nicht untergehen will. Und von vielen Zuschauern ist das auch so verstanden worden. Dass es immer welche gibt, die diese spektakuläre Oberflächlichkeit als erstes wahrnehmen, damit muss man leben.

Die Furche: Ihr Körper sichert Ihnen Aufmerksamkeit. Ein Vorteil für einen Schauspieler?

Radtke: Ich habe sicher eine Theaterkarriere gemacht, die ich ohne die Behinderung nie hätte erreichen können. Es sind mir also auf der einen Seite Rollen zugefallen, die ich gerade wegen meiner Körperlichkeit ausgefüllt habe. Aber andererseits kann ich manche Rollen auch nicht ohne weiteres spielen, um nicht gewissen Klischees Vorschub zu leisten.

Die Furche: Welche zum Beispiel?

Radtke: Mich würde es durchaus reizen, einmal den Faust zu spielen, aber ich würde nicht den Mephisto spielen wollen, ganz einfach, weil Behinderung immer mit Negativem, mit Bösem, mit Sünde gleichgesetzt wird. Und als behinderter Darsteller muss man aufpassen, dass man solche Vorurteile nicht weiter unterstützt.

Die Furche: Sie kämpfen nicht nur gegen Vorurteile, sondern als Mitglied des deutschen Nationalen Ethikrats gegen behindertenfeindliche Tendenzen insgesamt. Wo sehen Sie heute die größten Probleme?

Radtke: Wir haben sicher nicht mehr die Situation wie im "Dritten Reich", dass Menschen mit einer Behinderung vernichtet werden, aber in der Biomedizin und der Genetik wird an ganz anderer Stelle das Lebensrecht solcher Menschen in Frage gestellt.

Die Furche: In Österreich wird die Streichung der "embryopathischen Indikation" gefordert, wonach ein behinderter Fötus bis zur Geburt abgetrieben werden darf (vgl. Furche Nr. 6). In Deutschland wurde dieser Passus 1995 gestrichen. Ein kluger Schritt?

Radtke: Damit ist zwar die Terminologie nicht mehr diskriminierend, aber die Praxis ist noch schlimmer geworden. Früher war eine Abtreibung in Deutschland ja nur bis zum Zeitpunkt der Lebensfähigkeit (ab der 22. Schwangerschaftswoche; Anm. d. Red.) möglich, doch in der neuen Regelung, bei der Frauen unter der "medizinischen Indikation" ein behindertes Kind abtreiben können, geht das bis zum allerletzten Moment.

Die Furche: Für welche Regelung würden Sie sich einsetzen?

Radtke: Für mich ist nicht die Tatsache des Schwangerschaftsabbruchs an sich verwerflich. Aber für mich ist die Unterscheidung verwerflich zwischen einem gesunden Kind, das am Leben bleibt, und einem behinderten Kind, das abgetrieben werden kann. Das einzige, wofür ich Verständnis hätte, wäre, wenn ein behinderter Fötus in einer Familie diagnostiziert wird, die bereits behinderte Kinder hat. Denn die wissen, was auf sie zukommt. Aber andere wissen das oft nicht. Ist es wirklich nur Leid und Schmerz? Eltern von behinderten Kindern werden auch von Momenten berichten können, die sie ohne das Kind nie erlebt hätten. Auch ich und die meisten Kollegen, die ich kenne - Schicksalsgefährten hört sich ja ein bisschen pathetisch an -, sind eigentlich mit ihrem Leben durchaus zufrieden. Das bedeutet nicht, dass nicht viele auch lieber ein nichtbehindertes Leben hätten, aber es ist nicht so, dass man sagen kann, das lohnt sich nicht.

Die Furche: Sie haben in Ihrer Laudatio auf Katalin Zanin den - nicht ganz unpathetischen - Satz gesagt, behinderte Menschen seien "das Salz der Erde". Wie meinen Sie das?

Radtke: Ich hätte auch sagen können, sie sind der "Stein des Anstoßes". Aber "Salz der Erde" ist ein guter Ausdruck, weil er nicht nur das Herausfordernde bedeutet, sondern auch etwas von Veränderung aussagt: Salz verändert, es ist ätzend, es tut vielleicht auch weh, aber es bringt auch die Würze, und eine Gesellschaft ohne Menschen mit Behinderung wäre eine arme Gesellschaft. Da würde die Herausforderung fehlen, da würde der Anstoß fehlen zu überlegen: Was ist der Mensch? Wodurch zeichnet sich Menschsein aus? Solche Anstöße können gerade "defekte" Menschen geben, die nicht der Norm entsprechen. Wenn das pathetisch ist, dann ist es auch die Bibel.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Brüchig und kämpferisch

Worum es ihm geht, ist Emanzipation: Emanzipation von

Menschen mit Behinderung, die von der Bühne träumen; und Emanzipation der Zuseher, die ihre eigenen Unsicherheiten beim Betrachten behinderter Menschen als deren "Manipulation" durch Regisseure missverstehen. Nicht zuletzt deshalb hat Peter Radtke 1984 die "Arbeitsgemeinschaft Behinderung und

Medien e.V." gegründet und leitet seit zwei Jahren einen Schauspiel-und Regie-Lehrgang für körperbehinderte Studierende an der Akademie für darstellende Kunst in Ulm. Selbst 1943 mit drei Knochenbrüchen zur Welt gekommen (Glasknochenkrankheit), hat Radtke Germanistik und Romanistik studiert und 1976 über "Das Problem ,Brüchigkeit' bei Rabelais, Diderot und Claudel" promoviert. 1983 wurde er von George Tabori an die Münchner Kammerspiele geholt. Es folgten zahlreiche

Engagements, u. a. als "Rotpeter" in Kafkas "Ein Bericht für eine Akademie" unter Franz Xaver Kroetz oder als Gregor Samsa in Taboris "Unruhige Träume" am Wiener Burgtheater. Seine Freundschaft zur ungarischen Bewegungspädagogin Katalin Zanin begann 1990, als seine Geschichte "Egon, der grüne Bär" von Zanins 1979 gegründeter, integrativer Tanz-und Theatergruppe "Ich bin o.k." dramatisiert wurde. "Das Wesentliche für Katalin Zanin war und ist immer der Mensch - auch und

gerade in seiner unvollkommenen Gestalt", meinte Radtke vergangenen Samstag in seiner Laudatio auf Zanin, die von der Kulturinitiative "globart" mit dem "globart Innovation Award" für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Nähere Infos unter www.globart.at

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