"Wir wollen nicht nur Konsumenten sein!"

Werbung
Werbung
Werbung

Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra über Indiens Wirtschaftswunder und die Rolle der Religionen als Schutzwall gegen den Kapitalismus.

Die Furche: Der aktuelle Blick des Westens auf Indien zeigt sich in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen: "Die Wirtschaftsmacht Indien greift an", kann man da lesen - was halten Sie von diesem Indienbild?

Pankaj Mishra: Indien, das Land der Spiritualität und Religion, ist auf einmal das ökonomische Kraftzentrum von Asien geworden. Lange Zeit haben die westlichen Zeitungen überhaupt nicht über Indien berichtet, höchstens wenn es ein Attentat gab. Das ist anders geworden, weil der Aufstieg der indischen Wirtschaft auch die europäischen Gesellschaften betrifft; zum Beispiel weil Arbeitsplätze in Europa verloren gehen. Aber in dieser Sicht steckt noch ein großes Vorurteil, das heißt: Diese alten Gesellschaften, Indien und China, werden nun endlich modernisiert. Sie treten nun endlich in die historischen Entwicklung ein, die von den Europäern im 19. und 20. Jahrhundert geschaffen wurden.

Die Furche: Andererseits wird Indien im Westen aber doch gerne als Modell und Vorbild für erfolgreiche neoliberale Reformen hingestellt - Sie würden das so nicht unterschreiben?

Mishra: Indische Ökonomen haben diese Behauptung schon mehrfach widerlegt. Freihandels-Kapitalsmus und liberale Demokratie, das sind die Konzepte, die nicht nur Geschäftsleuten, sondern auch Journalisten und die Eliten im Westen im Kopf haben, wenn Sie auf Indien schauen. Sie sagen: "Seit 1947 gab es eine protektionistische Wirtschaft, und 1991 haben sie die Wirtschaft geöffnet und jetzt boomen sie." Das ist simplifizierend, oberflächlich und falsch. Die sozialistische und protektionistische Wirtschaft schuf die Bedingungen für das dann folgende ökonomische Wachstum.

Die Furche: Wenn sie sich diese ökonomische Entwicklung, die Indien in den letzten 15 Jahren genommen hat, ansehen. Würden Sie sagen: Indien ist auf einem guten Weg?

Mishra: Es gibt die Meinung über die Ökonomischen Reformen, wonach alles 1991 angefangen habe. Aber das ist nicht wahr. Das ökonomische Wachstum hat zugenommen seit 1980, lange vor den Reformen, bevor die Ökonomie liberalisiert wurde und die ausländischen Investoren in großem Stil nach Indien eingeladen wurden.

Die Furche: Sie meinen, dieses neue Denken, dieses neue Wirtschaften, diese Liberalisierungen sind auch aus Indien selbst hervorgegangen.

Mishra: Ja natürlich. Es wird immer schwieriger, von westlicher und indischer Elite zu reden, es sind offensichtlich globale Eliten. Die indischen Eliten sind in gewisser Hinsicht nicht mehr dem indischen Volk gegenüber verantwortlich, viele sind nicht gewählt. Sie sind sich selbst verantwortlich und verfolgen nur Eigeninteressen; und ihre Unterstützung kommt von außerhalb. Es gibt neue Allianzen. Die Vorstellung von nationalen Eliten, die nationale Interessen verteidigen, ist veraltet - wir leben nicht mehr in so einer Welt. Wir sehen transnationale Eliten, Eliten der großen Konzerne.

Die Furche: Und wer kann diese globale Elite herausfordern? Könnten die Religionen hier eine Rolle spielen?

Mishra: Religion alleine ist nicht stark genug dafür. So wie ich Religion sehe, ist es etwas für das Individuum, ein Impetus, ein ethisches Leben zu führen. Wenn sich jemand dieser Herausforderung stellt, dann denkt er aber auch über die Welt nach und tut etwas. Das ist der Beitrag der Religion: Den Leuten eine ethische Perspektive zu vermitteln. Die Ideologien, ob es nun Kommunismus oder Kapitalismus ist, tun das nicht mehr. Der Kapitalismus sagt bloß: "Schau auf dein Eigeninteresse und halte dich an die Gesetze." Das ist aber was anderes, als einen ethischen Standpunkt zu haben und sich um andere Menschen zu kümmern. Ich glaube nicht, dass die Religion eine politische Bewegung sein kann oder sollte, aber sie kann Einzelnen helfen, ihr Leben ethisch zu gestalten.

Die Furche: Der Blick des Westens auf Indien. Spielt die Religion eine zentrale Rolle bei der westlichen Faszination an Indien?

Mishra: Ja, das war immer so, seitdem Europäer im großen Stil nach Indien gereist sind, also seit dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Das ist die Zeit der Säkularisierung in Frankreich und England: Die Leute entfernten sich von der traditionellen Religion und betraten die moderne Welt. In dieser Situation wurde die indische Religion sehr faszinierend und interessant. Die Menschen waren säkular, es waren zum Teil Wissenschaftler, die die indische Religion erforschten, aber auch für die Schriftsteller war es ein wichtiges Thema. Nehmen sie Edward Forsters "A Passage to India" zum Beispiel. Das Buch lebt von Forsters Faszination am Hinduismus.

Die Furche: Was denken Sie über die westlichen Religionstouristen heute? In Ihrem Buch "Benares" haben Sie einige von ihnen beschrieben.

Mishra: Nun, es gibt sehr unterschiedliche Indienreisende. Ich habe Sympathien für Leute, die eine neue Lebensorientierung suchen. Zuhause sind die Optionen für sie sehr begrenzt, und Indien bietet neue Ideen. Früher sah ich sie als welche, die ihren Heimatgesellschaften entfliehen wollen und mit ihrem konventionellen Leben und ihren Karrieren abgeschlossen haben - und ich habe sie dafür verurteilt. Aber inzwischen akzeptiere ich ihre Entscheidung, nach etwas anderem zu suchen. Je mehr Zeit man in Europa und Amerika verbringt, umso mehr realisiert man, wie uniformiert diese Gesellschaften sind und wie gering die Möglichkeiten sind für jemanden, der gerade von der Universität kommt. Das Leben ist weitgehend festgelegt. Das erklärt, warum viele die Welt bereisen, was anderes finden wollen.

Die Furche: Wie sieht es mit der Religion in Indien heute aus? Es gibt religiös motivierte Gewalt und Fundamentalismus. Ist den Religionen in Indien der Weg in die Moderne gelungen?

Mishra: Wir müssen unterscheiden zwischen den Religionen, wie sie von der Mehrheit der Menschen in der Welt praktiziert werden, und ihren Verunreinigungen durch den politischen Bereich. Um ein Beispiel zu geben: Die meisten Leute im Westen halten Demokratie für eine wunderbare Sache - zu Recht. Aber sie kann religiöse Trennungen in Indien produzieren. Wie? In einer kleinen Stadt gibt es Hindus unterschiedlicher Kasten, und die Moslems stellen vielleicht 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung. Die einzige Möglichkeit, wie ein Politiker die hinduistische Wählerschaft vereinigen kann, um für ihn zu stimmen, ist, indem er sagt: "Diese Moslems sind Terroristen und anti-national." Von außen sieht alles demokratisch und prima aus, aber der Prozess der politischen Repräsentation verhärtet oft religiöse Identitäten. Und irgendwann kann das zu gewalttätigen Konsequenzen führen. Wir müssen untersuchen, wie die jahrtausendealten Formen der Religion mit modernen Prozessen interagieren. Dafür nur die Religionen verantwortlich zu machen, ist nicht nur unfair, sondern auch falsch. Oft ist auch die Moderne das Problem.

Die Furche: Sie haben einmal gesagt, dass es ein gutes Mittel gegen die gleichmachende Moderne sei, wenn die IT-Spezialisten aus Bangalore jeden Morgen beten. Wie kann Religion heute förderlich sein?

Mishra: Indiens religiöse Traditionen sind immer noch wichtig, selbst für reiche und erfolgreiche Leute. Das ist ein Schutzwall gegenüber Leuten die sagen, der amerikanische oder moderne Lebensstil ist der einzige und jeder sollte sich dem anpassen: "Ihr sollt alle eure Wirtschaften umstellen, so dass alle Menschen Konsumenten und Produzenten werden." Leute, wie der genannte Wissenschaftler, die jeden Morgen beten, sagen: "Wir wollen so nicht sein. Wir wollen die große Vielfalt unserer Traditionen aufrecht erhalten, wir wollen nicht alle so sein wie ihr. Wir wollen nicht in einer Welt leben, in der es nur Modernität gibt, und jeder einen Anzug anzieht, ein Auto fährt und ein Konsument wird."

Das Gespräch führte Christoph Fleischmann.

Pankaj Mishra wurde 1969 in Jhansi, Indien, geboren und wuchs in Uttar Pradesh auf. Er lebt als Schriftsteller in London und Indien. 2001 erschien sein erster Roman auf Deutsch "Benares oder eine Erziehung des Herzens". 2005 folgte sein Buch "Unterwegs zum Buddha" (beide im Karl Blessing Verlag erschienen). Bei der Biennale in Bonn hielt er im Mai den Eröffnungsvortrag: "Der neue Orientalismus. Der Blick des Westens auf Indien im Zeitalter der Globalisierung." Auf Englisch erschien zuletzt sein Essayband "Temptations of the West: How to Be Modern in India, Pakistan, Tibet, and Beyond".

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung