Wo sind die Atheisten hin?

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Christliche Spurensuche nach dem verloren geglaubten Widerpart.

Wäre der Atheismus eine institutionalisierte Kirche, der grassierende Glaubensabfall würde die Funktionäre und aufrechten Mitglieder mit großer Sorge erfüllen. Hätte der Atheismus einen Papst an seiner Spitze, schon längst wäre dieser für eine atheistische Neuideologisierung eingetreten. Da es aber beides nicht gibt, bleibt es einer in den siebziger Jahren von Kardinal Franz König initiierten "Studiengruppe zu Fragen des Unglaubens" rund um den emeritierten Wiener Universitätsprofessor für christliche Philosophie, Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, vorbehalten, sich in dem gerade erschienenen Sammelband "Atheismus heute" mit diesem "Weltphänomen im Wandel" kritisch und wohlwollend zugleich auseinanderzusetzen.

Ein erstes Ergebnis dieser Studie zeigt dann sogleich, dass die Sorgen der um die Zahl ihrer Anhänger bangenden Atheisten und der warnende Aufruf des Atheisten-Papstes in dieser Form nicht gerechtfertigt wären. Denn, auch wenn die Marginalisierung des Atheismus im öffentlichen Diskurs und die fehlende Auseinandersetzung mit ihm diesen Eindruck erwecken mag, so gab es in den letzten 25 Jahren "bemerkenswerte Verschiebungen weniger in der Ausbreitung oder im Rückgang dieses Phänomens, sondern mehr innerhalb des Bedeutungsspektrums des Atheismus". Die Antwort einer Gruppe ostdeutscher Jugendlicher auf die Frage nach ihrer religiösen Selbsteinschätzung bringt diesen Bedeutungswandel auf den Punkt: "Wir sind weder christlich noch atheistisch; wir sind halt normal." Wucherer-Huldenfeld nennt dieses Desinteresse und diese Gleichgültigkeit sowohl der Religion als auch dem kämpferisch-engagierten Atheismus gegenüber einen theoretisch indifferenten oder negativen Atheismus. Anders als für atheistische Skeptiker oder Agnostiker klassischer Prägung ist für einen indifferenten, negativen Atheisten die Gottesfrage nicht etwas Unentscheidbares oder Unlösbares, sondern etwas Unvollziehbares, Undenkbares, Unnötiges, das ihn für ein "normales Leben" auch weiter nicht zu kümmern braucht. Wem die religiöse Aussage aber nichts sagt, langweilig, unverständlich oder sogar sinnlos vorkommt, dem fehlt auch jegliches Verständnis für die kämpferische Bemühung, sie zu widerlegen. Dies sei, so Wucherer-Huldenfeld, "die unauffälligere und am meisten verbreitete Gestalt des heutigen Atheismus. Hier hat sich ein grundlegender Wandel vollzogen".

Deshalb ist es nicht richtig, den Atheismus als die Überzeugung einer kleinen Minderheit abzutun, fährt der christliche Philosoph fort. Wenn die Europäische Wertestudie 4,5 Prozent Atheisten in Europa (inklusive Osteuropa) und 1,2 Prozent in Nordamerika ausweist, und damit den Atheismus als quantité négligeable erscheinen lässt, so mag das im besten Fall für den herkömmlichen positiven Atheismus gelten. Rechnet man aber laut Wucherer-Huldenfeld auch die unauffälligen, indifferenten und negativen Erscheinungsformen dazu, dann kann "nahezu ein Drittel der Europäer als atheistisch oder atheisierend eingestuft werden. Bei der Weltbevölkerung kommt man auf rund ein Fünftel - eine Größe die statistisch zwischen Christentum und Islam steht". Angesichts dieses aus dem geschichtlichen Zusammenhang gerissenen neuen Atheismus "ozeanischer Größe", der "zur Bedrohung aller monotheistischen Religionen" anzuwachsen drohe, erscheint das kirchliche Desinteresse diesem Phänomen gegenüber fatal und grotesk zugleich.

Atheismus wird heute nicht mehr wie zur Zeit des Zweiten Vatikanums als kritische Antwort auf eine "das christliche Mysterium verdunkelnde Praxis sowie auf eine Verfälschung der christlichen Verkündigung" wahrgenommen, beklagt Wucherer-Huldenfeld. Die Ernstnahme der kritischen Stimme der Atheisten scheint in der heutigen Kirche keinen Platz mehr zu haben. Ganz anderes, ja das genaue Gegenteil gilt jedoch für den besprochenen Sammelband. Hier werden Frauen und Männer vorgestellt, die sich als Dichter, Philosophen und Theologen mit der Frage nach Gott auseinandergesetzt haben und - oft ausgelöst durch die Fehlleistungen ihrer Religionsgemeinschaften (nicht nur der christlichen) - zu "bekümmerten" Atheisten entwickelt haben. Einzelne Beiträge sind aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ausdruckweise nicht leicht zu lesen und scheinen auf den ersten Blick auf sehr spezielle Themen fixiert zu sein. Wer sich aber "durchbeißt", den erwarten - oft gut versteckt - tolle Einsichten, die zuweilen den "bekümmerten"Atheismus in einem selbst besser bewusst machen.

Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. Hg. von Karl Baier, Augustinus Wucher-Huldenfeld u.a., Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2001, 204 Seiten, brosch., öS 277,-/e 20,13

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