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Ein "Gespräch" mit ihrer Großmutter über Judentum und Christentum sowie über das Leben während und nach der Schoa. Auszug aus dem neuen Buch von ruth steiner.

Liebe Omi! Aus deinem Tagebuch "Die Apokalyptischen Jahre" habe ich jene Aufzeichnungen ausgewählt, die mich persönlich am meisten berühren.

19. April 1938: Heute kehrte ich in die katholische Kirche zurück. Bis jetzt galt ich seit meiner Heirat als - konfessionslos. Am 31. März wurde mein Kind getauft. Warum doch nur? Um den strengen nationalistischen [nationalsozialistischen] Gesetzen zu entgehen. Und für mich zum Kinderglauben zurück? Und nun die "Mischehe" mit meinem geliebten Mann. Alles so merkwürdig: Gewollt, "heimgekehrt" ... [Meine Großmutter ist 1915 aus der Kirche ausgetreten, um ihren Mann zu heiraten. Bis 1938 war sie konfessionslos, dann ist sie wieder eingetreten, um ihn kirchlich zu heiraten und ihn dadurch zu retten. Ihre Tochter Lisl (Ruth Steiners Mutter, Anm.) hat sich 1938 taufen lassen, um einen Christen zu heiraten, aber sie galt als Jüdin, da sie bei ihrer Geburt in der Kultusgemeinde eingeschrieben war. Deshalb konnte sie 1938 nicht heiraten. Im September 1938 ist sie aus Wien geflüchtet.]

10. November 1938: Heute früh 7 Uhr - Hausdurchsuchung. Sie haben das ganze Silber genommen. Lisl hat noch nicht geschrieben ... Warten auf Post. Die Suchmänner sagten zum Mann: Machen Sie sich für 6 Uhr bereit, um 6 Uhr abends läutete es Sturm. Unsere Herzen sanken, ganz tief, ganz tief ... Der Briefträger stand draußen und brachte uns einen Brief von Lisl, daß sie in Manila angekommen ist. Wir umarmten uns - sprachlos ... Nur Tränen ... O Dank, Dank!

3. August 1939: Heute bekamen wir die Kündigung. [Juden wurden von ihren Wohnungen ausgewiesen.]

27. August 1939: Keine Flugpost mehr. Krieg in Sicht. Alles so nett in der Wohnung, die ich verlassen muß - an Lisls Geburtstag - nein, wir müssen schon am 13. Oktober übersiedeln in die Haidgasse 5.

4. November 1940: Lisl hat in Manila geheiratet.

25. November 1941: Ausziehen in die Große Schiffgasse 21. Mischehenghetto. - Besser ein Loch und gesund als krank im Palast. Frau Brandl beleidigt mich schwer. Sie sagte: Warum ziehen Sie nicht zur Mutter? - Ich, ohne Mann! Niemals, niemals ...

Liebe Omi! Deine Gedanken und Gefühle zum Mischehenghetto und wie es dir darin ergangen ist, schreibst du auch in deinem Manuskript "Stärker als der Tod ist die Liebe. Nicht getrennt - neu verbunden" nieder: [...] Wenn ich auf der Straße mit Dir ging, sahen die Leute zuerst auf den Stern an Deiner Brust, dann auf mich. Ich besaß jetzt ein verbreitetes Fensterbrett, auf dem ich schreiben konnte. Ein eigenes Arbeitszimmer zu 50 Quadratzentimeter - das genügte. Ich durfte noch schreiben, wenn auch nur für mich. Graue Häuser und ein ganz kleines Himmelsstückchen, das waren meine Ausblicke. Vor einem Fenster hatten wir ein Kästchen befestigt. Darin bauten wir Tomaten an, denn Blumen und Tiere durften Juden nicht halten ... und wir galten ja als Juden. Draußen auf der Türe vor unserem Zimmer prangte der gelbe Davidstern. Doch wir waren avanciert. Wir lebten im Mischehen-Ghetto, im Verband mit drei solchen Ehepaaren.

8. Dezember 1941: Krieg bei den Kindern! Pearl Harbor! [Überfall der Japaner auf die amerikanische Kriegsflotte ...]

27. Februar 1943: Heute, heute - ich habe keine Worte: Die Post vom japanischen Roten Kreuz: "HELEN, PARENTS ALLRIGHT HANS LISL" [...] [Liebe Omi, ... nach all den Ängsten von eineinhalb Jahren hast du erfahren, dass deine Tochter und dein Schwiegersohn wohlauf sind und dass du eine Enkelin namens Helen hast.]

10. März 1943: Heute früh 1/2 8 SS, Dokumente vorzeigen. Die Gefürchteten nahmen Dich sowie alle jüdischen Menschen, die im Hause greifbar waren, mit sich. Der Gestapomann herrschte Dich an: Sie müssen in einer 1D4 Stunde bereit sein! Packen! Ich sagte, wir leben doch schon 30 Jahre zusammen. Antwort: Lange genug. Ich: Der Mann ist 69 Jahre alt. Antwort: Er ist alt genug geworden. Ich war wie abwesend. Packte. Abschied. Du und die anderen wurden über die Stiegen gejagt. Schweres, schwerstes Herz ... In etwa einer halben Stunde kam er zurück, da man "nur" der geschiedenen Männer, die von ihren "arischen" Frauen getrennt lebten, habhaft werden wollte. [...]

12. April 1945: Die vierte totale Nacht im Keller. Die Menschen nervös, unleidlich. Als wir uns anfangs im Keller versammelten, meinte der "Blockwart": hie Juden, hie Arier. "Nein" sagte ich, "zusammen gelebt, zusammen sterben." So gab es keine Trennung.

13. Februar 1946: HANS, LISL, HELEN, RUTHY ALLRIGHT. ALL BURNT, MANILA FIRE, LONGING TO SEE YOU SOON: WILL TRY EVERYTHING! MONEY AVAILABLE. KISSES FROM ALL. [Dieses Telegramm vom Roten Kreuz, das im Original noch vorhanden ist, war die erste Nachricht nach drei Jahren Krieg auf den Philippinen. Nun gab es zwei Enkelkinder, ich kam 1944 auf die Welt. Meine Eltern hatten im Feuer von Manila alles verloren.]

3. Juli 1946: Keinen Hunger mehr, baden dürfen. Briefe vom Kind - was mußten sie mitmachen! Die Japaner, das brennende Haus -was ich alles zu denken, zu fühlen habe! Vorgestern Taifun auf den Philippinen! Wie ist das nur? Gibt es keine wirkliche Sprache der Liebe, des Herzens? Für mich ist alles zu wenig. Und nur immer und immer das eine Wort: Dank, Dank! Und unaussprechliche Reue: Ich habe das Kind Gott nicht lieben gelehrt. Ich wollte Judentum und Christentum zusammenführen, denn Jesus war doch Jude und deshalb wollte und wollte ich einen Juden heiraten! Und ich habe die Zusammenführung nicht erreicht. Vielleicht, vielleicht - einen Grund gelegt?

Momente lang tiefer Gram, wie ich nicht glaubte, ihn empfinden zu können - schmerzlichste Reue und zugleich Empfinden Seiner Milde! Seinen Segen! Möge er über die Kinder und Kindeskinder fließen! Gib den Menschen die Kraft, daß sie Dich wirklich erkennen, dann wird wahrer Frieden sein! Diese Gotteserkenntnisse! Manchmal so aufgewühlt. Ist es richtig, daß ich schrieb an Edith: "Ich bin so aufgewühlt - Herrgott gibt es ja nur einen und durch welche Konfession man ihm dient, ist ja nur Erziehungssache. Mir ist unser Gottesdienst, die Liturgie, das genehmste. Ist es recht so?" Es beginnen nun die schönen, sanften Tage. [...]

Jude sein - oder nicht?

Liebe Omi! Dadurch dass Großvater Jude war und du Katholikin, bist du viel konfrontiert worden mit der Frage, wohin du gehörst. Vor allem da du ein uneheliches Kind einer Katholikin und eines Juden warst. Um Großvater zu heiraten, bist du 1915 aus der katholischen Kirche ausgetreten und warst konfessionslos. Eigentlich war es dein Plan, dass du zum Judentum konvertierst. Das hattest du der Mutter deines Mannes versprochen. [...]

Die Familie deines Mannes war über die Eheschließung nicht sehr glücklich, sie kam nicht zur Hochzeit ... Ich habe keine Unterlagen finden können, warum du nicht zum Judentum konvertiert bist.

Laut einer Statistik kam damals auf neun rein jüdische Ehen eine Ehe zwischen einem Mitglied der jüdischen Gemeinde und einem/r Konfessionslosen ... Während der NS-Zeit war das nicht nur eine religiöse Frage, die Nazis haben ja ganz absurde Differenzierungen gemacht. [...]

Wenn ich zurückdenke an deine Freitagnachmittag-Freundinnen-Gruppe, die sich immer um 15 Uhr im Café Haag getroffen hat, waren das fast alles Frauen, die in Mischehen lebten und den Krieg mit vielen Opfern überlebten. Edith Flamm, deren Mutter in Theresienstadt umgekommen ist, Emma Tuppy, Maria Steinbach, Tante Jante - eine richtig verschworene Gruppe gegen die ehemaligen Nazis, hatte ich das Gefühl. [...]

Jüdische Identität

Wo gehöre ich eigentlich hin? Ich bin Christin jüdischer Herkunft und das kann man mir nicht wegnehmen. Wenn ich während des Krieges gelebt hätte, wäre ich wahrscheinlich den gleichen Weg gegangen wie unsere Verwandten. Ich wäre ins Konzentrationslager gekommen oder mit viel Glück geflüchtet. Je mehr ich mich damit beschäftige, umso mehr fühle ich mich in erster Linie als Jüdin. Andererseits brauche ich die heilige Messe und Kommunion. Vielleicht bin ich ja meschugge? Meine Anwesenheit in der Synagoge ist die eines Gastes, aber nicht einer Fremden. Wenn ich länger nicht da bin, ruft man mich an, fragt, ob ich krank bin. [...]

Ich werde von jüdischen Freunden eingeladen, mit ihnen die Feiertage zu feiern. Wir gehen gemeinsam zum Rosch Haschana-Gottesdienst (Jüdisches Neujahr) und zum Fest nachher. Nach Jom Kippur (Versöhnungsfest) brechen wir das Fasten nach dem Gottesdienst und feiern bei einem koscheren Mal. Das Feiern von religiösen Festen ist etwas, das mir viel bedeutet. Es ist mehr als nur "Folklore". Immer wieder fragen mich jüdische Freunde: "Also wohin gehörst du jetzt? Bist du eine von uns oder bist du Christin? Hast du nicht Schwierigkeiten, mit dir ins Reine zu kommen?" Ich sitze also zwischen zwei Sesseln, die vielleicht eine Brücke sein können. Es hat einige Jahre gedauert, bis ich nicht mehr als Verräterin angesehen wurde, sondern dass ich akzeptiert werde wie ich bin. Es ist noch nicht lange her, dass ich darüber ein langes Gespräch mit guten Freunden hatte. Ich kann nur dann mit dieser Situation leben, wenn man mir abnimmt, dass ich nicht versuche, andere zu missionieren, um meinen Weg zu gehen. Ich bin im Vorstand des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der aus einem Drittel Katholiken, einem Drittel Protestanten und einem Drittel Juden besteht. Auf die Frage, wie viele jüdische Vorstandsmitglieder wir haben, sagte jemand: "Zweieinhalb."- "Wer ist einhalb?" - "Die Ruth Steiner."

Omi, im August 1946 schrieb dir meine Mutti: "Die Kinder sind in der jüdischen Religionsgemeinschaft eingetragen worden." Das war gleich nach dem Ende des Krieges in Manila. Wahrscheinlich tat sie dies wegen ihrer Verfolgung und aus Gründen der Pietät. [...]

Gemeinsames, Trennendes

Ich habe das Gefühl, dass ich sowohl in der katholischen Kirche wie auch in der jüdischen Gemeinschaft aufgenommen bin. Aber eine Klärung ist für mich immer wichtig. Man kann nicht zwei Religionen haben! Ich gehe in die katholische Messe, empfange die Kommunion - und beim jüdischen Gottesdienst bin ich Gast. Es ist wichtig, beides zu kennen, zu wissen, was jeweils das Verbindende ist. Man muss einen Gottesdienst miterleben, um die andere Religion zu verstehen. In aller Demut: Könnte das der Grund sein, warum ich diesen merkwürdigen Weg zwischen Judentum und Christentum gehe - um es anderen besser zu vermitteln?

Aber ein wenig war das auch schon dein Weg. Auch du, Omi, wolltest beide Religionen verstehen und in ihnen leben. Auf jeden Fall hast du für mich einen Grund gelegt für meine religiöse Denkungsweise.

WAS ICH DICH NOCH FRAGEN WOLLTE ... Eine Christin auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität

Von Ruth Steiner. Wiener Domverlag, Wien 2006. 160 Seiten, kt., e 14,90

Ruth Steiner, 1944 in Manila als Kind jüdischer Emigranten geboren, ist als Generalsekretärin der Katholischen Aktion Österreich (1986- 2000) zur Pionierin des christlich-jüdischen Dialogs geworden. Für sie selber haben seit damals ihre jüdischen Wurzeln immer mehr an Bedeutung gewonnen. Schon 2000 hat sie das im Buch "Daheim in zwei Religionen" thematisiert. Dieser Tage erscheint ihr neues Buch: "Was ich dich noch fragen wollte ... Eine Christin auf der Suche nach ihrer jüdischen Identität", das am 23. Februar in Jerusalem der Öffentlichkeit präsentiert wird. Ruth Steiner hält darin Zwiesprache mit ihrer Großmutter Therese Lindenberg und beschreibt deren Reflexionen über die ns-Zeit, die sie mit ihrem jüdischen Mann im Wiener Mischehenghetto überlebte. Daraus zieht Ruth Steiner Schlüsse für ihre eigene Identität. Nachstehender Auszug gibt einen Einblick über die Verwobenheit eines Schicksals in zwei Religionen. (Zur klareren Lesbarkeit sind die Texte von Großmutter Lindenberg kursiv gesetzt; Ruth Steiners Reflexionen erscheinen in Normalschrift). ofri

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