Es sind nun zehn Jahre vergangen seit dem sogenannten Kopftuchurteil in Deutschland. Damals hatte das Oberschulamt Stuttgart die Einstellung einer Grundschullehrerin verweigert, weil sie ein Kopftuch trug. Das Tuch, so die Argumentation, sei Ausdruck kultureller Abgrenzung und damit nicht nur ein religiöses, sondern auch ein politisches Zeichen. Der UN-Menschenrechtsrat in Genf sieht in solchen Urteilen nicht nur die Religionsausübung gefährdet, sondern auch die Gleichberechtigung von Frauen eingeschränkt. Sie könnten nicht mehr frei ihren Beruf wählen.
Viele meiner muslimischen Lehramtsstudentinnen hier in Münster tragen Kopftuch und hoffen später, mit Kopftuch nicht nur Islam, sondern auch Fächer wie Deutsch und Mathematik unterrichten zu dürfen. Einige meiner Absolventinnen entscheiden sich für das Ablegen des Kopftuchs vor dem Schulgebäude, um es nach Schulschluss wieder aufzusetzen. Aber viele fangen gar nicht mit einem Lehramtsstudium an, da sie befürchten, später vor der Wahl zu stehen, entweder Kopftuch oder Beruf.
Oft werde ich als Theologe gefragt, wie es denn im Islam mit dem Kopftuch stehe. Meine Antwort lautet: Es handelt sich in der öffentlichen Debatte keineswegs um die theologische Frage, ob das Kopftuch eine religiöse Verpflichtung ist oder nicht. Es geht vielmehr um das religiöse Bewusstsein vieler muslimischer Mädchen und Frauen, die für sich das Tragen des Kopftuchs, jenseits theologischer Auseinandersetzungen, gewählt haben und es als Teil ihrer religiösen Praxis sehen.
Wollen wir ernsthaft die Integration der Muslime vorantreiben, dann sollte die Gesellschaft so viel Verständnis für Pluralität haben, dass sie genügend Raum auch für nichtchristliche Symbole bietet, auch um für islamische Länder, in denen religiöse Minderheiten unterdrückt werden, ein authentisches Vorbild zu sein.
Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster
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