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Würde des Wortes

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Es gibt eine Art Tragik der Sprache und mit ihr des Wortes. Der Mensch hat „ sich dieses Mittel der Verständigung geschaffen, aber es versagt vielleicht ebensooft wie es seine ursprüngliche Bestimmung erreicht, wird in der Sprache der Literatur und des Alltags, aber auch in der großen Politik mißbraucht, um Tatsachen zu verschleiern, zu verdunkeln, statt aufzuhellen. Die in der Bibel erzählte Geschichte von dem Turmbau zu Babel, dessen Fertigstellung, durch die Sprachenverwirrung unmöglich wurde, hat eine tiefe Bedeutung. Es bedarf gar nicht verschiedener Idiome, um die Menschen hilflos gegeneinanderzustellen; selbst wenn man die gleiche Sprache spricht, versteht man sich nicht, werden nicht die gleichen Inhalte in die Worte gelegt. Um solche ist oft in der Geschichte der menschlichen Entwicklung mit den Waffen des Geistes oder der Gewalt gekämpft worden. i In einer unbegründeten Überheblichkeit hat sich der moderne Mensch daran gewöhnt, über die hitzigen Wortgefechte der christlichen Konzile in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung zu lächeln, da man einmal sogar um einen Buchstaben, ein Jota, rang, das allerdings die Trinitätslehre in der Frage der .Wesensähnlichkeit oder Wesensgleichheit der zweiten göttlichen Person mit der ersten entscheidend betraf. Mit einem herablassenden Achselzucken wird die Definitionssucht der Denker des 11. und 12. Jahrhunderts abgetan, die sich aus einem Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber dem gedachten und gesprochenen oder geschriebenen Worte erklärt. Wir konnten von den Philosophen dieser Zeit lernen, wie wichtig es ist, einen Begriffsinhalt genau abzugrenzen, bevor in eine Diskussion über ihn eingetreten wird. Der Mensch von heute hat zum Worte ein anderes, man kann ruhig sagen oberflächliches und leichtfertiges Verhältnis — darum unterliegt er auch so gerne dem inhaltsleersten der Worte auf allen Gebieten, dem Schlagworte. Auf der Grundlage unzulänglicher, vieldeutbarer Formulierungen, deren Interpretation dehnbar ist, sind Massenbewegungen entstanden, die in der Katastrophe, im Chaos geendet haben, wir brauchen uns nur an das verschwommene, unaufrichtige Tugendideal der Jakobiner oder an die Begriffe von Gemeinnutz und Volksgemeinschaft im Dritten Reiche zu erinnern. Die Tragödie der deutschen Intelligenzschicht hätte vielleicht vermieden werden können, wenn man ehrlicher und genauer bestimmte Schlagworte konsequent zu Ende gedacht hätte. Das schreckliche Erwachen angesichts der Konzentrationslager und der Gaskammern wäre dann erspart geblieben. Wir erleben es auch in der Gegenwart, wie schwer die Verständigung zwischen entgegengesetzten politischen und gesellschaftlichen Systemen ist, weil die Deutung der Begriffe versagt. Amerikaner und Russen, verstehen die Worte Freiheit und Demokratie im gegensätzlichen Sinne. An unserem eigenen' Leibe spüren wir, wie sehr sich die mangelnde Präzision des Begriffes „Deutsches Eigentum“ in Potsdam gerächt hat. Wohl nicht zuletzt wegen des Fehlens einer verbindlichen Diplomatensprache, wie es früher das Französische gewesen war, die klarste und eindeutigste der europäischen Sprachen, arbeiten heute internationale Konferenzen unter ungünstigeren Bedingungen in bezug auf Verstehen des Wollens der Partner.

Das Problem des Mißverhältnisses zwischen Wort und Begriffsinhalt besteht auch für die Wissenschaft, vor allem für die Geisteswissenschaften, die ja sprachlich ihren Stoff formen und den in der Vergangenheit geprägten Worten, die oft ihren Sinn geändert haben, verhaftet bleiben. Für die Geschichtswissenschaft zum Beispiel ist der Bedeutungswandel der Worte vielleicht das wichtigste Problem. Der große Heidelberger Romanist E. R. Curtius konnte behaupten, daß das Mittelalter überhaupt noch nicht richtig erfaßt sei, weil die philologische Deutung mangelhaft geblieben wäre.

Der Inhalt aller großen Worte, wie Staat, Freiheit, Persönlichkeit, Gemeinwohl, ist zeitgebunden. Die Vorstellung der res publica, des Staates und seiner Aufgaben war natürlich im 12. Jahrhundert eine andere als im 15. oder 19. Besonders offenbart sich aus der Geschichte die Relativität des Begriffes der Freiheit — nichts wäre verkehrter, als zu glauben, der Sinn der Geschichte bestehe in der Entwicklung zu einer abstrakten „Freiheit“. So verstanden etwa die kirchlichen Reformkreise im Zeitalter des Investiturstreites im späten 11. und im frühen 12. Jahrhundert unter der libertas ecclesiae, der Freiheit der Kirche, die Unabhängigkeit von der weltlichen Gewalt, aber ein in diesem Sinne freies Kloster fand die Unterordnung unter den Papst als Haupt der Papstkirche im Gegensatz zu der Reichskirche als selbstverständlich. Wieder anders war der Begriff der städtischen Freiheit fundiert, wie er in den italienischen Kommunen etwas später aufkam. Im Namen der Freiheit wurden in der Zeit der kommunalen inneren Kämpfe im 12. Und 13. Jahrhundert die politischen Gegner vertrieben, ihre Güter eingezogen, so daß •manchmal anarchische Zustände die Folge waren. Die Städte der Mark Ancona, die um 1200 aus dem Verbände des Imperiums herausstrebten und die päpstliche Herrschaft vorzogen, waren bitter enttäuscht, als sie ihre „Freiheit“ zwar erhielten, aber sehen mußten, daß auch Innozenz III. ähnliche Forderungen — vor allem finanzieller Natur — an sie stellte wie ehemals der Kaiser. Der Papst schrieb darüber resigniert in einem Briefe: „Die Provinz ist gegenwärtig, da sie die Freiheit geatmet hat, in einem

ärgeren Zustande als vorher, da sie in der Knechtschaft seufzte.“

Das Freiheitsideal der französischen Revolution endete in der Schreckensherrschaft. Anatole France hat in seinem Roman „Les dieux ont soif“ diese Entwicklung meisterhaft geschildert. Oder, um ein anderes Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit für die Umkehrung eines Wortes in sein- Gegenteil“ zu nehmen: man stelle sich den Irrtum eines späteren Historikers vor, der aus der offiziellen Terminologie des Dritten Reiches auf tatsächliche Zustände schließen würde, etwa aus den „freiwilligen“ Spenden, die unter moralischem Drucke eingehoben wurden, die Gebefreudigkeit der Bürger des Dritten Reiches ableitete.

Besonders wichtig ist die Frage nach dem Begriffsinhalt in der mittelalterlichen Geschichte, da man sich des Mediums einer fremden, der lateinischen, Sprache bediente. Der Anfänger übersetzt etwa das Wort honor so, wie er es in der Schule gelernt hat, mit Ehre, und' er unterschiebt dadurch den Quellen eine falsche bürgerliche Sentimentalität, die den mittelalterlichen Menschen ferne war. Honor, also Ehre, heißt im Mittelalter auch das Amt, das Lehn, die Rechtsstellung, besonders der gehobenen Schichten, sogar Besitz, gesellschaftliche Position. Die „Honoratioren“ des 19. Jahrhunderts erinnern an den alten, rein soziologischen Begriffsinhalt. Das Adjektiv honorabilis bedeutet demnach nicht ehrbar oder ehrenwert, sondern adelig, edel, in einer höheren sozialen Rechtsstellung befindlich. Schlegel-Tieck übersetzen in Shakespeares „Julius Caesar“ in der Rede des Mark Anton: „Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann.“ Nun besagt aber das honourable Shakespeares nicht bürgerliche Ehrbarkeit, sondern ist ein Titel, der eben dem Adeligen zukam und nur diesem. Die Übersetzung müßte richtig heißen: „Doch Brutus ist ein adeliger Mann“ (und darum lügt er nicht).

Ein anderes Beispiel einer unzulänglichen Übersetzung und falschen Deutung, die aber zu einer historisch wirkenden Kraft in einer späteren Zeit durch Behängung mit Gefühlsinhalten geworden ist, die dem Worte: ursprünglich fremd waren, ist das „Heilige Römische Reich“, das sacrum imperium. Das „Heilige Reich“ wurde dadurch in eine Sphäre gehoben, die ihm nach dem Willen seiner Namensgeber gar nicht zukam. Die lateinische Sprache unterscheidet zwischen sanctum und sacrum. Nach Auffassung der Spätantike war das Römische Reich nicht sanctum, sondern nur sacrum, geheiligt durch seinen Zweck, und seine Aufgabe, die in der Ausbreitung des Christentums und in der Heidenbekämpfung bestand. Nach Ansicht der spätantiken christlichen Denker und nach den Worten des Sacramentarium Gelasianum aus dem 5. Jahrhundert war das Römische Reich von Gott providentiell- zur Ausbreitung des Christentums zugelassen, war es sacrum, aber nicht sanctum. Durch die deutsche Übersetzung, die für sacrum und sanctum nur das ,ein.e Wort heilig kennt, wurde erst ein falscher Sinn in den Begriff gelegt.

Würden die Worte jeweils in ihrem relativen Begriffsinhalt gebraucht und die durch falsche Übersetzungen bedingten Irrtumsquellen beseitigt werden, würde die Geschichte der Worte klarer sein, minderten sich Polemiken aller Art Und jede Auseinandersetzung gewänne an Deutlichkeit. Der Geschichtsunterricht als Erziehungsfaktor hat daher unter ariderem die wichtige Aufgabe, durch Verlangen der Interpretation der Worte der Vergangenheit zu jener begrifflichen Sauberkeit zu führen, die inhaltslos gewordene Ausdrücke nicht mehr erträgt und darum von der Oberfläche zum Wesen einer Sache vordringt. Dem Worte ist erst wieder nach der inhaltlichen Verwilderung besonders der letzten Jahrzehnte sein Wert, sein Gewicht und damit seine Würde wiederzugeben. Mit der Rückgewinnung der Substanz der Worte wird auch der begrifflichen Verdrehung und der Vernebelung der Köpfe Einhalt geboten, sobald einfach das Denken des einzelnen nicht mehr zuläßt, daß für frei unfrei, für freiwillig zwangsmäßig, für Angriffswillen Frieden gesagt wird. Die Würde des Wortes verlangt Ehrfurcht vor ihm und, seinem Gehalte. Erst das Wissen um diesen kann das begriffliche Chaos beseitigen, das einer geistigen und moralischen Regenerierung im Wege steht.

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