Würdige gegen unwürdige Arme

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Die Ergebnisse der EU-Konferenz von Nizza werden nicht nur von den Iren gering geachtet. Auch die österreichische Regierung setzt den in Nizza beschlossenen "Nationalen Aktionsplan gegen Armut und soziale Ausgrenzung" nur halbherzig um.

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Die Ergebnisse der EU-Konferenz von Nizza werden nicht nur von den Iren gering geachtet. Auch die österreichische Regierung setzt den in Nizza beschlossenen "Nationalen Aktionsplan gegen Armut und soziale Ausgrenzung" nur halbherzig um.

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Eine wirksame Armutsvermeidung steht und fällt mit der ganzheitlichen Sicht der Verarmungsrisken. Erfahrungsgemäß aber hat jede Regierung ihre "Lieblingsarmen" wie jetzt Behinderte oder kinderreiche Familien, die gegen andere benachteiligte Gruppen wie Migranten, Suchtkranke oder Arbeitslose ausgespielt werden.

In diesem Sinn kritisiert die Linzer Armutsforscherin Christine Stelzer-Orthofer den von der österreichischen Regierung vorgelegten Aktionsplan zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung Sie sieht darin einen "eklatanten Widerspruch zwischen dem bekundeten Willen zur Armutsbekämpfung und dem, was an aktueller Politik unter dem Diktat der sozialen Treffsicherheit passiert" - etwa mit der Einschränkung der beitragsfreien Kranken-Mitversicherung oder der verlängerten Anwartschaft auf das Arbeitslosengeld.

Zur Erstellung der "Nationalen Aktionspläne gegen Armut und soziale Ausgrenzung" haben sich die EU-Regierungen beim EU-Gipfel in Nizza verpflichtet. Die wesentliche Vorgaben der EU seien von österreichischer Seite aber nicht erfüllt worden, kritisiert Stelzer-Orthofer. Im österreichischen Aktionsplan gebe es "überhaupt keine konkreten, quantifizierbaren Zielformulierungen oder Evaluierungskriterien". Es hätte festgeschrieben werden müssen, wie Bund, Länder oder Gemeinden das jeweilige armutsbekämpfende Ziel wirklich erreichen.

Ähnlich scharf ins Gericht mit dem Aktionsplan geht Caritas-Präsident Franz Küberl: Es gebe "überhaupt keinen konkreten Vorschlag", wie man Armut bekämpfen könne. Die Regierung lasse den politischen Willen, die sozial-staatlichen Defizite zu bekämpfen, nicht erkennen. Im Aktionsplan würde nämlich nur der Status Quo beschreiben, etwa dass die staatlichen Mindestpensionen mittlerweile unter dem Armutspegel lägen. Gegenmaßnahmen seien nicht erwähnt. Manchmal habe man den Eindruck, dass bei der Erstellung des Plans alle Sozialpolitiker der Parteien auf Urlaub gewesen seien, konstatierte Küberl.

Mangel als Lebenslage Wer heute arm ist, gehört zu den Verworfenen. Armut ist nicht nur Entbehrung, sondern auch Demütigung. Vor allem bietet sie eines nicht mehr: den Aspekt des Aussteigens. Arme sind zwar gründlich ausgeschlossen, aber nicht aus der Gesellschaft selbst. Vielmehr sind sie den aktuellen Zwängen am meisten ausgeliefert. Gerade die, die liegengelassen wurden, werden nicht mehr losgelassen. Die am meisten Ausgeschlossenen sind die am meisten Eingeschlossenen.

Im Alltag der Betroffenen gibt es keine Armutsgrenze. Sie erfahren Armut als Lebenslage des Mangels. Armut heißt nicht nur ein zu geringes Einkommen zu haben, sondern bedeutet einen Mangel an Möglichkeiten, um in den zentralen gesellschaftlichen Bereichen zumindest in einem Mindestausmaß teilhaben zu können. Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt, Sozialkontakte, Bildung. Armut ist ein Mangel an Verwirklichungschancen eines Menschen, ein Verlust an substantiellen Freiheiten: doppelt so oft krank zu sein wie Nichtarme. Weniger Freunde und soziale Netze zur Verfügung zu haben. In feuchten Substandardwohnungen leben zu müssen. Es sich nicht leisten können, zu Hause Gäste zu bewirten. Den Kindern stark eingeschränkte Zukunftschancen zu bieten.

Amartya Sen, Armutsforscher und Nobelpreisträger für Ökonomie, betont in der Publikation der Vierten Österreichischen Armutskonferenz "Und raus bist Du!", dass es bei Armutsbekämpfung und -vermeidung um "die substantiellen Freiheiten" geht, die es dem Menschen erlauben, "ein mit Gründen erstrebtes Leben zu führen". Von Armut Betroffene sind keine Zielobjekte sozialpolitischen Handelns, sondern Subjekte, aktiv handelnde Personen. "Die Analogie einer Zielscheibe sieht sie in keiner Weise als aktive Personen, die für sich selber sorgen, handeln und tätig sind. Das Bild ist mehr das eines passiven Empfängers als eines handelnden Akteurs."

Die Vorstellung von Armen als gute, reine und nette Menschen führt zu einer verqueren Moralisierung des Sozialen mit den Folgen der Spaltung in "gute" und "böse". Der "würdige" Arme hat ein Kindergesicht, ist getroffen durch "Schicksal" und erweist sich dankbar gegenüber allem, was ihm zukommt. Der "unwürdige" Arme trägt Schuld, ist widerspenstig oder faul. Die Spaltung in "Würdige" und "Unwürdige" hat schon eine lange Tradition: Am Beginn der Neuzeit steht der Wunsch, dass die Obrigkeit dafür zu sorgen habe, dass die Armen verschwinden und die Armut unsichtbar werde. "Nur nichts verschwenden, am allerwenigsten an Arme, denn letztendlich sind diese selber Schuld an ihrem Los. Der Neuzeit, die das große Lob der Arbeit singt, wird der Arme verdächtig. Wenn jeder sein Glück seiner Leistung verdanken soll, wird der, der nicht leisten kann oder will, zum Außenseiter" (Konrad Liessmann). Seit dem letzten Jahrhundert schon ist der Armutsdiskurs von zwei Vorbehalten durchsetzt: durch den Verdacht, dass Armut nur Ausdruck von Arbeitsunwilligkeit sei und durch den Versuch, den Anblick von Armut aus den Zentren des öffentlichen Lebens zu verbannen. Resultat waren, wo er sich durchsetzen ließ, Arbeitszwang, Arbeitshäuser und die Stigmatisierung als Sündenböcke an den sozialen Rand der Gesellschaft.

Politikervorurteile Und auch in diesem Punkt wird der Nationale Aktionsplan gegen Armut und soziale Ausgrenzung immer mehr zur Farce, kritisiert die Armutskonferenz. Denn was die Betroffenen nicht brauchen könnten, seien Politiker, "die sie als Projektionsfläche für persönliche Vorurteile verwenden". Langzeitarbeitslosigkeit ist bedingt durch unzureichende Qualifikation, fortgeschrittenes Lebensalter, physische und psychische Probleme, kostenorientierter Kündigungsstrategien von Arbeitgebern und das Fehlen teilgeschützter Märkte (innovativer Arbeitsmarktprojekte). Die Ideologie des Sündenbocks sagt aber: Wenn die nicht wären, wäre alles besser" Die Praxis des Sündenbocks sucht sich die gesellschaftliche Gruppe aus, die mit der geringsten Macht ausgestattet sind, diejenigen ohne Lobby. Zum Sündenbock gehört, dass er sich kaum wehren kann. Die Figur des "Ausländers" hat sich dafür als äußerst geeignet erwiesen.

Ideologien des Auschlusses wirken wie Drogen. Hat man davon gekostet, verlangt man nach Dosissteigerung. Genug ist nie genug. Es muss die Dosis stets erhöht werden, um dieselbe Wirkung von vorher zu erreichen. Alles, was wir tun, fassen wir in Worte. Sind die Worte draußen, erklären sie die Taten. Sind Taten gesetzt, sind sie durch die Worte legitimiert. Es gibt keine Tat ohne Wort. Politisch geht es darum, den Ausschluss bestimmter Gruppen der Bevölkerung ideologisch vorzubereiten und zu rechtfertigen. Da gehen die Worte den Taten zur Hand.

"Wir" und "Sie" Wer drinnen und wer draußen zu bleiben hat, ist kein Akt des Zufalls. So hat die deutsche "Bild-Zeitung" eine Serie zu sozialen Frage veröffentlicht. Der Überlebenskampf ist das dominante Motiv der Artikel. Im Überlebenskampf steht das "Wir", bedroht und gewissermaßen umzingelt von den Gruppen des "Sie", die sich räuberisch und parasitär bereichern. Der "kleine Mann" ist das Wir. Er steht nicht für den Underdog oder sozial Schwachen, sondern für die gesellschaftliche Mitte. Der Politik wird nicht vorgeworfen, dass sie Bedingungen ganz unten verschärft, sondern dass sie symbolische Grenzen ignoriert. Die Grenzen zwischen Wir und Sie sollen befestigt werden, zwischen drinnen und draußen. Es wird sichtbar, dass ökonomische Daten hier weniger wichtig sind als symbolische Grenzziehungen. Die Markierung eines Abstandes zu den anderen ist vielmehr eine Form der Selbstversicherung. Das Abstandsgebot brandmarkt die "Unwürdigen" und versichert die "Würdigen".

Die Ideologie des Sündenbocks legt nahe, dass ganze Menschengruppen überflüssig sind. So können von dreien in einem Boot zwei mit Zweidrittelmehrheit beschließen, den Dritten über Bord gehen zu lassen. Die damit verwandte "Ideologie der Gewinner" sagt: "Jeder kann gewinnen, wenn er nur will". "Wenn das Versprechen gebrochen wird, lebst du weiter", heißt es in einem Lied des amerikanischen Rocksängers Bruce Springsteen, "aber es stiehlt etwas aus der Tiefe deiner Seele". Der versprochene Traum, dass alle gewinnen, wenn sie nur wollen, ist eine Lüge. Der Arbeiter in Springsteens Song schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, einmal dort, einmal da. "Ich folgte dem Traum, den die Leute am Fernsehschirm hochhalten", sagt er. "Jeden Tag wird es härter, diesen Traum zu leben, an den ich glaube. Ich fühle mich, als würde ich den gebrochenen Geist aller tragen, die verloren haben."

Der Autor ist Sozialexperte der Diakonie Österreich.

"Und raus bist Du!" Soziale und räumliche Ausgrenzung inmitten einer reichen Gesellschaft.

Publikation zur Vierten Österreichischen Armutskonferenz 2001, brosch., öS 190,-/e 12,91

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